Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol¬
taire 1746 zum Historiographen ernannt wurde. Diese Thatsache möchte frei¬
lich kaum glaublich erscheinen, wenn man an der Hand Grimm's die gehei¬
men Absichten verfolgt, welche Voltaire bei Abfassung der Henriade verfolgte:
nämlich die boshafteste, wirkungsvollste Satire und Streitschrift gegen den
damals in Frankreich allmächtigen Jesuitismus zu liefern, die jemals geschrie¬
ben worden ist. Aber der Zeisel darüber, ob es möglich gewesen sei, den
katholischen Hof zu Versailles so vollständig zu dupiren, verschwindet vor der
Thatsache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italienische übersetzte;
daß Voltaire selbst es wagte, sich gegen einen alten, "wie einen Vater gelieb¬
ten Jesuiten" zu erbieten, jedes Wort aus dem Gedicht ausmerzen zu wollen,
das gegen die katholische Religion, zu deren Ehre es geschrieben sei; in Wahr¬
heit verstoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts besser als durch dieses
Werk die Fabel von seinem Atheismus; in der That zeigt er sich darin als
gutkatholischen Franzosen; sein Held Heinrich IV. erreicht nur dadurch die
Unterwerfung der Hauptstadt und die unbestrittene Königswürde, daß er dem
ketzerischen Calvinismus abschwört und sich plötzlich von "der Wahrheit"
katholisch erleuchten läßt. In vielen Versen wird die katholische Religion mit
den höchsten Ausdrücken der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus,
die sichtbare Kirche. Rom, das vom Jesuitismus beherrschte Papstthum, auf
das schonungsloseste gegeiselt, und in der erfolgreichsten Weise im Bunde mit
Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindschaft zu dem französischen Volke und
Königthum versetzt. Die boshafteste Scene, zugleich die, welche diese Tendenz
am klarsten enthüllt, ist unzweifelhaft jenes Erscheinen der Discorde im Vati-
can; das symbolische Frauenzimmer, in der ihr als allegorischen Figur er¬
laubten Nacktheit, eilt durch die Gemächer; den Papst umarmt sie zärtlich
und regt ihn durch wilde Buhlkünste zum Krieg gegen Frankreich auf und
beginnt dann unter päpstlichen Segen eine Rundreise durch Frankreich, bis
es ihr gelingt Jacques Element zum Morde Heinrich's des Dritten zu dingen.
Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber sein Gedicht und sich selbst
sicher gestellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies.
Er erhebt sie zu der vom Himmel vorherbestimmten herrschenden Familie,
welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, so daß die Kirche in Frank¬
reich eigentlich überflüssig erscheint. "Mit verbissener Wuth stand der Klerus
dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zuschlagen. Voltaire hatte ein Werk
geschaffen, das die Quintessenz seines Jahrhunders enthielt. In immer
höherem Grade fand jeder Leser darin, was er suchte, mochte er von einer
Seite daran treten, von welcher er wollte."

So phantastische Formen dieser Haß Voltaire's gegen den Klerus und
Rom in der Henriade annimmt -- und so sehr dieser Haß der Grundton


unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol¬
taire 1746 zum Historiographen ernannt wurde. Diese Thatsache möchte frei¬
lich kaum glaublich erscheinen, wenn man an der Hand Grimm's die gehei¬
men Absichten verfolgt, welche Voltaire bei Abfassung der Henriade verfolgte:
nämlich die boshafteste, wirkungsvollste Satire und Streitschrift gegen den
damals in Frankreich allmächtigen Jesuitismus zu liefern, die jemals geschrie¬
ben worden ist. Aber der Zeisel darüber, ob es möglich gewesen sei, den
katholischen Hof zu Versailles so vollständig zu dupiren, verschwindet vor der
Thatsache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italienische übersetzte;
daß Voltaire selbst es wagte, sich gegen einen alten, „wie einen Vater gelieb¬
ten Jesuiten" zu erbieten, jedes Wort aus dem Gedicht ausmerzen zu wollen,
das gegen die katholische Religion, zu deren Ehre es geschrieben sei; in Wahr¬
heit verstoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts besser als durch dieses
Werk die Fabel von seinem Atheismus; in der That zeigt er sich darin als
gutkatholischen Franzosen; sein Held Heinrich IV. erreicht nur dadurch die
Unterwerfung der Hauptstadt und die unbestrittene Königswürde, daß er dem
ketzerischen Calvinismus abschwört und sich plötzlich von „der Wahrheit"
katholisch erleuchten läßt. In vielen Versen wird die katholische Religion mit
den höchsten Ausdrücken der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus,
die sichtbare Kirche. Rom, das vom Jesuitismus beherrschte Papstthum, auf
das schonungsloseste gegeiselt, und in der erfolgreichsten Weise im Bunde mit
Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindschaft zu dem französischen Volke und
Königthum versetzt. Die boshafteste Scene, zugleich die, welche diese Tendenz
am klarsten enthüllt, ist unzweifelhaft jenes Erscheinen der Discorde im Vati-
can; das symbolische Frauenzimmer, in der ihr als allegorischen Figur er¬
laubten Nacktheit, eilt durch die Gemächer; den Papst umarmt sie zärtlich
und regt ihn durch wilde Buhlkünste zum Krieg gegen Frankreich auf und
beginnt dann unter päpstlichen Segen eine Rundreise durch Frankreich, bis
es ihr gelingt Jacques Element zum Morde Heinrich's des Dritten zu dingen.
Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber sein Gedicht und sich selbst
sicher gestellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies.
Er erhebt sie zu der vom Himmel vorherbestimmten herrschenden Familie,
welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, so daß die Kirche in Frank¬
reich eigentlich überflüssig erscheint. „Mit verbissener Wuth stand der Klerus
dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zuschlagen. Voltaire hatte ein Werk
geschaffen, das die Quintessenz seines Jahrhunders enthielt. In immer
höherem Grade fand jeder Leser darin, was er suchte, mochte er von einer
Seite daran treten, von welcher er wollte."

So phantastische Formen dieser Haß Voltaire's gegen den Klerus und
Rom in der Henriade annimmt — und so sehr dieser Haß der Grundton


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132237"/>
          <p xml:id="ID_23" prev="#ID_22"> unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol¬<lb/>
taire 1746 zum Historiographen ernannt wurde. Diese Thatsache möchte frei¬<lb/>
lich kaum glaublich erscheinen, wenn man an der Hand Grimm's die gehei¬<lb/>
men Absichten verfolgt, welche Voltaire bei Abfassung der Henriade verfolgte:<lb/>
nämlich die boshafteste, wirkungsvollste Satire und Streitschrift gegen den<lb/>
damals in Frankreich allmächtigen Jesuitismus zu liefern, die jemals geschrie¬<lb/>
ben worden ist. Aber der Zeisel darüber, ob es möglich gewesen sei, den<lb/>
katholischen Hof zu Versailles so vollständig zu dupiren, verschwindet vor der<lb/>
Thatsache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italienische übersetzte;<lb/>
daß Voltaire selbst es wagte, sich gegen einen alten, &#x201E;wie einen Vater gelieb¬<lb/>
ten Jesuiten" zu erbieten, jedes Wort aus dem Gedicht ausmerzen zu wollen,<lb/>
das gegen die katholische Religion, zu deren Ehre es geschrieben sei; in Wahr¬<lb/>
heit verstoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts besser als durch dieses<lb/>
Werk die Fabel von seinem Atheismus; in der That zeigt er sich darin als<lb/>
gutkatholischen Franzosen; sein Held Heinrich IV. erreicht nur dadurch die<lb/>
Unterwerfung der Hauptstadt und die unbestrittene Königswürde, daß er dem<lb/>
ketzerischen Calvinismus abschwört und sich plötzlich von &#x201E;der Wahrheit"<lb/>
katholisch erleuchten läßt. In vielen Versen wird die katholische Religion mit<lb/>
den höchsten Ausdrücken der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus,<lb/>
die sichtbare Kirche. Rom, das vom Jesuitismus beherrschte Papstthum, auf<lb/>
das schonungsloseste gegeiselt, und in der erfolgreichsten Weise im Bunde mit<lb/>
Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindschaft zu dem französischen Volke und<lb/>
Königthum versetzt. Die boshafteste Scene, zugleich die, welche diese Tendenz<lb/>
am klarsten enthüllt, ist unzweifelhaft jenes Erscheinen der Discorde im Vati-<lb/>
can; das symbolische Frauenzimmer, in der ihr als allegorischen Figur er¬<lb/>
laubten Nacktheit, eilt durch die Gemächer; den Papst umarmt sie zärtlich<lb/>
und regt ihn durch wilde Buhlkünste zum Krieg gegen Frankreich auf und<lb/>
beginnt dann unter päpstlichen Segen eine Rundreise durch Frankreich, bis<lb/>
es ihr gelingt Jacques Element zum Morde Heinrich's des Dritten zu dingen.<lb/>
Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber sein Gedicht und sich selbst<lb/>
sicher gestellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies.<lb/>
Er erhebt sie zu der vom Himmel vorherbestimmten herrschenden Familie,<lb/>
welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, so daß die Kirche in Frank¬<lb/>
reich eigentlich überflüssig erscheint. &#x201E;Mit verbissener Wuth stand der Klerus<lb/>
dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zuschlagen. Voltaire hatte ein Werk<lb/>
geschaffen, das die Quintessenz seines Jahrhunders enthielt. In immer<lb/>
höherem Grade fand jeder Leser darin, was er suchte, mochte er von einer<lb/>
Seite daran treten, von welcher er wollte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_24" next="#ID_25"> So phantastische Formen dieser Haß Voltaire's gegen den Klerus und<lb/>
Rom in der Henriade annimmt &#x2014; und so sehr dieser Haß der Grundton</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol¬ taire 1746 zum Historiographen ernannt wurde. Diese Thatsache möchte frei¬ lich kaum glaublich erscheinen, wenn man an der Hand Grimm's die gehei¬ men Absichten verfolgt, welche Voltaire bei Abfassung der Henriade verfolgte: nämlich die boshafteste, wirkungsvollste Satire und Streitschrift gegen den damals in Frankreich allmächtigen Jesuitismus zu liefern, die jemals geschrie¬ ben worden ist. Aber der Zeisel darüber, ob es möglich gewesen sei, den katholischen Hof zu Versailles so vollständig zu dupiren, verschwindet vor der Thatsache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italienische übersetzte; daß Voltaire selbst es wagte, sich gegen einen alten, „wie einen Vater gelieb¬ ten Jesuiten" zu erbieten, jedes Wort aus dem Gedicht ausmerzen zu wollen, das gegen die katholische Religion, zu deren Ehre es geschrieben sei; in Wahr¬ heit verstoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts besser als durch dieses Werk die Fabel von seinem Atheismus; in der That zeigt er sich darin als gutkatholischen Franzosen; sein Held Heinrich IV. erreicht nur dadurch die Unterwerfung der Hauptstadt und die unbestrittene Königswürde, daß er dem ketzerischen Calvinismus abschwört und sich plötzlich von „der Wahrheit" katholisch erleuchten läßt. In vielen Versen wird die katholische Religion mit den höchsten Ausdrücken der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus, die sichtbare Kirche. Rom, das vom Jesuitismus beherrschte Papstthum, auf das schonungsloseste gegeiselt, und in der erfolgreichsten Weise im Bunde mit Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindschaft zu dem französischen Volke und Königthum versetzt. Die boshafteste Scene, zugleich die, welche diese Tendenz am klarsten enthüllt, ist unzweifelhaft jenes Erscheinen der Discorde im Vati- can; das symbolische Frauenzimmer, in der ihr als allegorischen Figur er¬ laubten Nacktheit, eilt durch die Gemächer; den Papst umarmt sie zärtlich und regt ihn durch wilde Buhlkünste zum Krieg gegen Frankreich auf und beginnt dann unter päpstlichen Segen eine Rundreise durch Frankreich, bis es ihr gelingt Jacques Element zum Morde Heinrich's des Dritten zu dingen. Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber sein Gedicht und sich selbst sicher gestellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies. Er erhebt sie zu der vom Himmel vorherbestimmten herrschenden Familie, welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, so daß die Kirche in Frank¬ reich eigentlich überflüssig erscheint. „Mit verbissener Wuth stand der Klerus dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zuschlagen. Voltaire hatte ein Werk geschaffen, das die Quintessenz seines Jahrhunders enthielt. In immer höherem Grade fand jeder Leser darin, was er suchte, mochte er von einer Seite daran treten, von welcher er wollte." So phantastische Formen dieser Haß Voltaire's gegen den Klerus und Rom in der Henriade annimmt — und so sehr dieser Haß der Grundton

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/15
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/15>, abgerufen am 27.07.2024.