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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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hier zu verwenden, so gut wie die gewaltigsten Fragen der Wissenschaft, eins,
wie uns scheint, so leicht als das andere. 'tous Iss gönrss sont tous Kors
1'onnuveux war sein Wahlspruch. Er brachte zum Lachen und zum Weinen,
einerlei welches, wenn die Leute nur wußten, daß er es war, dessen Kunst
es zu Wege gebracht. Voltaire ist der ungeheuerste literarische Schauspieler
gewesen, den jemals die Erde beherbergt hat." Nicht im gewöhnlichen Sinne,
sondern im höchsten, wie Garrick es war. Bergessen dürfen wir dabei nicht,
mit welchem Aufwands geistiger Mittel dies Spiel in Scene gesetzt ward; daß
Voltaire zur Befriedigung dieses Triebes Unschuldige vom Tode errettet hat,
gegen die ganz Frankreich schrie. Er war muthig und zähe. Er besaß eine
ungeheuere Macht, seine Gedanken zu denen der Menge zu machen und wenn
er diese Macht oft anwandte um sich zu rächen, so fehlte sie ihm ebensowenig,
wenn er für die Unterdrückten eintrat.

Diese imposante Abhandlung Grimm's über die Bedeutung Voltaire's
und die inneren Gründe seiner literarischen Alleinherrschaft -- die hier nur
in den Hauptgedanken verfolgt werden konnte -- ist indessen gewissermaßen
nur die Exposition oder Uebersicht dessen, was der Verfasser über den großen
Franzosen eigentlich zu sagen beabsichtigt. "Voltaire ist für uns heute wich¬
tig als Dichter, als Historiker, und, für Deutschland besonders, als Freund
Friedrich's des Großen. Nach diesen drei Richtungen hin ist es von Werth
für Jedermann, eine Anschauung seiner Thätigkeit und seines Charakters zu
gewinnen."

Den Dichter Voltaire stellt Herman Grimm durchaus nicht auf jene
Höhe, auf welche das befangene Urtheil seiner Landsleute und der bequemen
Nachsprecher in vielen andern Nationen ihn erhoben hat. Grimm beginnt
mit seiner Kritik bei jenem "Oedipus" Voltaire's, den der achtzehnjährige
Dichter als Gefangener in der Bastille schrieb, der 4S Vorstellungen erlebte
und ihm vom Regenten eine goldene Medaille und Pension eintrug. Grimm
vergleicht zunächst die antike Sophokleische Oedipussage mit dem, was Cor¬
neille in einem fast völlig vergessenen Stück daraus französisirt hat, und weist
Voltaire nach, daß er das Corneille'sche Vorbild, so geringschätzig er auch
darüber urtheilen mag. doch sehr eingehend benützt habe, indem er in der
Hauptsache die Corneille'sche Fabel des Stückes, ja selbst einzelne Verse und
Episoden wörtlich copirte. Nur fällt der Vergleich durchweg sehr zu Ungunsten
Voltaire's aus, da, wo dieser sich von seinem Vorbilde trennt. Seine Alexan¬
driner sind zwar "irreprochabel" -- aber nicht einer einzigen ruhigen Scene
begegnen wir. Voltaire bekundet eine bedenkliche Unfähigkeit, zu charakteri-
siren, oder auch nur deutliche Bilder zu liefern. Sein Philoktet wird zum
bekannten französischen Hausfreund, der, statt sich aus unglücklicher Liebe zu
Jokaste regelrecht ins Wasser zu stürzen, einfach leben bleibt, um sich der


Grenzswten IV. 1871. 2

hier zu verwenden, so gut wie die gewaltigsten Fragen der Wissenschaft, eins,
wie uns scheint, so leicht als das andere. 'tous Iss gönrss sont tous Kors
1'onnuveux war sein Wahlspruch. Er brachte zum Lachen und zum Weinen,
einerlei welches, wenn die Leute nur wußten, daß er es war, dessen Kunst
es zu Wege gebracht. Voltaire ist der ungeheuerste literarische Schauspieler
gewesen, den jemals die Erde beherbergt hat." Nicht im gewöhnlichen Sinne,
sondern im höchsten, wie Garrick es war. Bergessen dürfen wir dabei nicht,
mit welchem Aufwands geistiger Mittel dies Spiel in Scene gesetzt ward; daß
Voltaire zur Befriedigung dieses Triebes Unschuldige vom Tode errettet hat,
gegen die ganz Frankreich schrie. Er war muthig und zähe. Er besaß eine
ungeheuere Macht, seine Gedanken zu denen der Menge zu machen und wenn
er diese Macht oft anwandte um sich zu rächen, so fehlte sie ihm ebensowenig,
wenn er für die Unterdrückten eintrat.

Diese imposante Abhandlung Grimm's über die Bedeutung Voltaire's
und die inneren Gründe seiner literarischen Alleinherrschaft — die hier nur
in den Hauptgedanken verfolgt werden konnte — ist indessen gewissermaßen
nur die Exposition oder Uebersicht dessen, was der Verfasser über den großen
Franzosen eigentlich zu sagen beabsichtigt. „Voltaire ist für uns heute wich¬
tig als Dichter, als Historiker, und, für Deutschland besonders, als Freund
Friedrich's des Großen. Nach diesen drei Richtungen hin ist es von Werth
für Jedermann, eine Anschauung seiner Thätigkeit und seines Charakters zu
gewinnen."

Den Dichter Voltaire stellt Herman Grimm durchaus nicht auf jene
Höhe, auf welche das befangene Urtheil seiner Landsleute und der bequemen
Nachsprecher in vielen andern Nationen ihn erhoben hat. Grimm beginnt
mit seiner Kritik bei jenem „Oedipus" Voltaire's, den der achtzehnjährige
Dichter als Gefangener in der Bastille schrieb, der 4S Vorstellungen erlebte
und ihm vom Regenten eine goldene Medaille und Pension eintrug. Grimm
vergleicht zunächst die antike Sophokleische Oedipussage mit dem, was Cor¬
neille in einem fast völlig vergessenen Stück daraus französisirt hat, und weist
Voltaire nach, daß er das Corneille'sche Vorbild, so geringschätzig er auch
darüber urtheilen mag. doch sehr eingehend benützt habe, indem er in der
Hauptsache die Corneille'sche Fabel des Stückes, ja selbst einzelne Verse und
Episoden wörtlich copirte. Nur fällt der Vergleich durchweg sehr zu Ungunsten
Voltaire's aus, da, wo dieser sich von seinem Vorbilde trennt. Seine Alexan¬
driner sind zwar „irreprochabel" — aber nicht einer einzigen ruhigen Scene
begegnen wir. Voltaire bekundet eine bedenkliche Unfähigkeit, zu charakteri-
siren, oder auch nur deutliche Bilder zu liefern. Sein Philoktet wird zum
bekannten französischen Hausfreund, der, statt sich aus unglücklicher Liebe zu
Jokaste regelrecht ins Wasser zu stürzen, einfach leben bleibt, um sich der


Grenzswten IV. 1871. 2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/13>, abgerufen am 27.07.2024.