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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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So fanden die Agrarier bei den Wahlen von 1869 und 1873 in den Be¬
zirken Rotenburg, Hersfeld, Hofgeismar und anderen vermöge der mangelnden
Bildung der Landbevölkerung solchen Anhang, daß sie als eine gefährliche
Macht bezeichnet werden konnten. Dies rüttelte dann die Liberalen aus ihrer
Lässigkeit etwas auf, sodaß sie im Bezirk Melsungen-Fritzlar einen seit Jahr¬
zehnten liberal aufgetretenen bäuerlichen Abgeordneten durchfallen ließen, weil
er mit den Agrariern gemeinsame Sache gemacht hatte.

Das geschilderte Unkraut wird alsbald vergehen, wenn die nationallibe¬
rale Partei dauernd aus ihrer Lässigkeit erwacht. Versuche dazu sind seit den
Reichstagswahlen in der That gemacht, jedoch nur in den Bezirken Hersfeld
und Gelnhausen. In ersterem hat sich im Juli d. I. ein liberaler Reichs¬
verein gebildet und sehr gut organisirt, sodaß zu hoffen steht, die grade in
den Kreisen Hersfeld, Hünfeld und Rotenburg am gefährlichsten aufgetretenen
Agrarier und Genossen werden allmählich verdrängt werden. Im Bezirke
Gelnhausen wird vom Abg. Schäffer und einigen Führern der Gemeinsinn
wachzuhalten gesucht, doch hat man es hier fortwährend mit dem Einflüsse
der Hanauer Demokraten zu thun, welche sich neuerdings neu organisirt haben.
Das einzig günstige Resultat haben die Liberalen in Marburg aufzuweisen,
wo es bei den letzten Reichstagswahlen gelungen ist, den conservativen An¬
walt Grimm wieder zu verdrängen, welchem durch die Ultramontanen der
Stadt Amöneburg zum Reichstagsmandate verholfen war. Dieser Sieg ist
um so erfreulicher, als es seit langer Zeit der Universitätsstadt wegen klein¬
licher Streitigkeiten nicht hatte gelingen wollen, liberale Wahlen durchzusetzen;
es wäre auch diesmal schwerlich gelungen, wenn man nicht einen in Marburg
sehr bekannten Namen ausfindig gemacht hätte, dessen Träger noch den Vor¬
theil besitzt, in Berlin zu wohnen. Denn die Diätenlosigkeit hat wohl kaum
irgendwo schlimmere Früchte getragen als in Hessen, wo gar wenige Personen
zu finden sind, welche das pecuniäre Opfer bringen können.

Den Hauptgrund der bisherigen Lässigkeit der hessischen Liberalen bilden
starke Enttäuschungen in Dingen und Personen. Man hatte in hessischer
Zeit solange von Preußen Errettung aus den versumpften Zuständen erwartet
und kam statt dessen 1866 in mancher Beziehung,, wie man meinte, nur
übler an. Große Gesichtspunkte und Opferfreudigkeit in vaterländischen Dingen
hätte freilich diese Anschauungen nicht hervorrufen sollen, aber die Menge,
an kleinen Horizont gewöhnt, urtheilte nur nach den nächstliegenden und
kleinlichen Verhältnissen. Die Belehrung war schwierig, weil die preußische
Regierung, wie bekannt, in der That große Fehler begangen hatte, wie der
König dies selbst anerkannte; die Hauptfehler der Herren v. d. Lippe und
v. Muster sind aber nur zu geringem Theile sanirt worden. So herrscht denn
noch immer, trotz Allem was dazwischen liegt, ein außerordentliches Mißtrauen;


So fanden die Agrarier bei den Wahlen von 1869 und 1873 in den Be¬
zirken Rotenburg, Hersfeld, Hofgeismar und anderen vermöge der mangelnden
Bildung der Landbevölkerung solchen Anhang, daß sie als eine gefährliche
Macht bezeichnet werden konnten. Dies rüttelte dann die Liberalen aus ihrer
Lässigkeit etwas auf, sodaß sie im Bezirk Melsungen-Fritzlar einen seit Jahr¬
zehnten liberal aufgetretenen bäuerlichen Abgeordneten durchfallen ließen, weil
er mit den Agrariern gemeinsame Sache gemacht hatte.

Das geschilderte Unkraut wird alsbald vergehen, wenn die nationallibe¬
rale Partei dauernd aus ihrer Lässigkeit erwacht. Versuche dazu sind seit den
Reichstagswahlen in der That gemacht, jedoch nur in den Bezirken Hersfeld
und Gelnhausen. In ersterem hat sich im Juli d. I. ein liberaler Reichs¬
verein gebildet und sehr gut organisirt, sodaß zu hoffen steht, die grade in
den Kreisen Hersfeld, Hünfeld und Rotenburg am gefährlichsten aufgetretenen
Agrarier und Genossen werden allmählich verdrängt werden. Im Bezirke
Gelnhausen wird vom Abg. Schäffer und einigen Führern der Gemeinsinn
wachzuhalten gesucht, doch hat man es hier fortwährend mit dem Einflüsse
der Hanauer Demokraten zu thun, welche sich neuerdings neu organisirt haben.
Das einzig günstige Resultat haben die Liberalen in Marburg aufzuweisen,
wo es bei den letzten Reichstagswahlen gelungen ist, den conservativen An¬
walt Grimm wieder zu verdrängen, welchem durch die Ultramontanen der
Stadt Amöneburg zum Reichstagsmandate verholfen war. Dieser Sieg ist
um so erfreulicher, als es seit langer Zeit der Universitätsstadt wegen klein¬
licher Streitigkeiten nicht hatte gelingen wollen, liberale Wahlen durchzusetzen;
es wäre auch diesmal schwerlich gelungen, wenn man nicht einen in Marburg
sehr bekannten Namen ausfindig gemacht hätte, dessen Träger noch den Vor¬
theil besitzt, in Berlin zu wohnen. Denn die Diätenlosigkeit hat wohl kaum
irgendwo schlimmere Früchte getragen als in Hessen, wo gar wenige Personen
zu finden sind, welche das pecuniäre Opfer bringen können.

Den Hauptgrund der bisherigen Lässigkeit der hessischen Liberalen bilden
starke Enttäuschungen in Dingen und Personen. Man hatte in hessischer
Zeit solange von Preußen Errettung aus den versumpften Zuständen erwartet
und kam statt dessen 1866 in mancher Beziehung,, wie man meinte, nur
übler an. Große Gesichtspunkte und Opferfreudigkeit in vaterländischen Dingen
hätte freilich diese Anschauungen nicht hervorrufen sollen, aber die Menge,
an kleinen Horizont gewöhnt, urtheilte nur nach den nächstliegenden und
kleinlichen Verhältnissen. Die Belehrung war schwierig, weil die preußische
Regierung, wie bekannt, in der That große Fehler begangen hatte, wie der
König dies selbst anerkannte; die Hauptfehler der Herren v. d. Lippe und
v. Muster sind aber nur zu geringem Theile sanirt worden. So herrscht denn
noch immer, trotz Allem was dazwischen liegt, ein außerordentliches Mißtrauen;


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[0486] So fanden die Agrarier bei den Wahlen von 1869 und 1873 in den Be¬ zirken Rotenburg, Hersfeld, Hofgeismar und anderen vermöge der mangelnden Bildung der Landbevölkerung solchen Anhang, daß sie als eine gefährliche Macht bezeichnet werden konnten. Dies rüttelte dann die Liberalen aus ihrer Lässigkeit etwas auf, sodaß sie im Bezirk Melsungen-Fritzlar einen seit Jahr¬ zehnten liberal aufgetretenen bäuerlichen Abgeordneten durchfallen ließen, weil er mit den Agrariern gemeinsame Sache gemacht hatte. Das geschilderte Unkraut wird alsbald vergehen, wenn die nationallibe¬ rale Partei dauernd aus ihrer Lässigkeit erwacht. Versuche dazu sind seit den Reichstagswahlen in der That gemacht, jedoch nur in den Bezirken Hersfeld und Gelnhausen. In ersterem hat sich im Juli d. I. ein liberaler Reichs¬ verein gebildet und sehr gut organisirt, sodaß zu hoffen steht, die grade in den Kreisen Hersfeld, Hünfeld und Rotenburg am gefährlichsten aufgetretenen Agrarier und Genossen werden allmählich verdrängt werden. Im Bezirke Gelnhausen wird vom Abg. Schäffer und einigen Führern der Gemeinsinn wachzuhalten gesucht, doch hat man es hier fortwährend mit dem Einflüsse der Hanauer Demokraten zu thun, welche sich neuerdings neu organisirt haben. Das einzig günstige Resultat haben die Liberalen in Marburg aufzuweisen, wo es bei den letzten Reichstagswahlen gelungen ist, den conservativen An¬ walt Grimm wieder zu verdrängen, welchem durch die Ultramontanen der Stadt Amöneburg zum Reichstagsmandate verholfen war. Dieser Sieg ist um so erfreulicher, als es seit langer Zeit der Universitätsstadt wegen klein¬ licher Streitigkeiten nicht hatte gelingen wollen, liberale Wahlen durchzusetzen; es wäre auch diesmal schwerlich gelungen, wenn man nicht einen in Marburg sehr bekannten Namen ausfindig gemacht hätte, dessen Träger noch den Vor¬ theil besitzt, in Berlin zu wohnen. Denn die Diätenlosigkeit hat wohl kaum irgendwo schlimmere Früchte getragen als in Hessen, wo gar wenige Personen zu finden sind, welche das pecuniäre Opfer bringen können. Den Hauptgrund der bisherigen Lässigkeit der hessischen Liberalen bilden starke Enttäuschungen in Dingen und Personen. Man hatte in hessischer Zeit solange von Preußen Errettung aus den versumpften Zuständen erwartet und kam statt dessen 1866 in mancher Beziehung,, wie man meinte, nur übler an. Große Gesichtspunkte und Opferfreudigkeit in vaterländischen Dingen hätte freilich diese Anschauungen nicht hervorrufen sollen, aber die Menge, an kleinen Horizont gewöhnt, urtheilte nur nach den nächstliegenden und kleinlichen Verhältnissen. Die Belehrung war schwierig, weil die preußische Regierung, wie bekannt, in der That große Fehler begangen hatte, wie der König dies selbst anerkannte; die Hauptfehler der Herren v. d. Lippe und v. Muster sind aber nur zu geringem Theile sanirt worden. So herrscht denn noch immer, trotz Allem was dazwischen liegt, ein außerordentliches Mißtrauen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/486>, abgerufen am 22.07.2024.