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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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sucht, selbst im Winter. Butzbach fand z. B. einen Nürnberger Kaufmann
mit Familie dort, der im eignen Wagen reiste. An den Jahrmarktstagen
aber strömten Edelleute und Bauern in Menge nach den Städten, um dort
zu kaufen und sich gütlich zu thun. "Die Sitten aber", erzählt Butzbach,
"der Bürger und Stadtleute mögen sich doch wenig von denen des Landvolks
unterscheiden, es sei denn durch größeren Reichthum oder durch die weitere
und längere Kleidung, so sie tragen, oder durch das Haupthaar, welches sie
sorgfältiger pflegen und entweder mit linnenen oder vielfarbigen Seitenbinden
auf dem Scheide! zusammengebunden haben oder gekräuselt herunter hängen
lassen. Auch tragen sie wohl das Haar in lange dünne Zöpfe getheilt unter
den mit Fuchsfell gefütterten Hussitentalaren, oder man kann sie auch unter¬
scheiden an den hohen Mützen aus Fuchspelz, sowie an den bis zur Erde
niederhängenden Pelzmänteln, mit welchen ihre Frauen zur Kirche schreiten."
Wenn die Städter so vor dem Landvolk einen gewissen Vorrang in äußerer
Beziehung behaupteten, so waren sie auch fast der einzige Theil des Volkes,
der eine gewisse geistige Cultur besaß. Denn auch der Hussitensturm hatte
die von der Kirche oder von den Stadtgemeinden gegründeten Schulen nicht
alle vernichtet. Butzbach selbst besuchte die Schulen in Kabau, Maschau
und Eger. Was er von ihnen berichtet, erinnert durchaus an die gleichzeitig
bestehenden Schulen deutscher Städte; freilich von ihrem inneren Leben er¬
fahren wir so gut wie nichts, weil der deutsche Knabe, der als Mönch seine
böhmischen Erinnerungen aufzeichnete, vor lauter Sorge um seine karge
äußere Existenz und hier und da auch vor Kirchendienst gar wenig zum
Lernen kam. Die Mehrzahl ihrer Besucher mögen Knaben und Jünglinge
aus der nächsten Nachbarschaft gewesen sein; doch trieb auch an diesen böh¬
mischen Schulen das Volk der fahrenden Schüler, der "Bacchanten" und
"Schützen" sein Wesen, wie Butzbach selber einer von ihnen war. Auch aus
deutschen Gegenden kamen sie, aus Franken unser Gewährsmann und seine
Genossen selber; in Maschau traf er Schüler aus Baiern, in Kabau gar solche
aus Wien. Ihr Leben war meist genau so wüst und erbärmlich wie ander¬
wärts; sie wohnten in sog. "Bursen" zusammen, hatten aber für ihren
Lebensunterhalt, soweit nicht der Kirchendienst etwas abwarf, selbst zu sorgen,
die jüngeren mußten deßhalb für die älteren betteln und wohl auch stehlen;
namentlich in der Entführung von Hühnern und Gänsen erwarb auch Butz¬
bach einige Gewandtheit. "Daß ich in solchen Geschäften", erzählt er, "fleißig
und gelehrig würde, dafür sorgte er (sein älterer Kamerad), nicht aber, daß
ich in Wissenschaft und Bildung Fortschritte machte. Ja ich weiß nicht, ob
ich jemals ein lateinisches Wort von ihm gelernt habe, denn er selbst war
unwissend und floh tüchtige Schulen, wo er selbst zum Studiren wäre an¬
gehalten worden; vielmehr suchte er die geringen und unbekannten auf, weil


sucht, selbst im Winter. Butzbach fand z. B. einen Nürnberger Kaufmann
mit Familie dort, der im eignen Wagen reiste. An den Jahrmarktstagen
aber strömten Edelleute und Bauern in Menge nach den Städten, um dort
zu kaufen und sich gütlich zu thun. „Die Sitten aber", erzählt Butzbach,
„der Bürger und Stadtleute mögen sich doch wenig von denen des Landvolks
unterscheiden, es sei denn durch größeren Reichthum oder durch die weitere
und längere Kleidung, so sie tragen, oder durch das Haupthaar, welches sie
sorgfältiger pflegen und entweder mit linnenen oder vielfarbigen Seitenbinden
auf dem Scheide! zusammengebunden haben oder gekräuselt herunter hängen
lassen. Auch tragen sie wohl das Haar in lange dünne Zöpfe getheilt unter
den mit Fuchsfell gefütterten Hussitentalaren, oder man kann sie auch unter¬
scheiden an den hohen Mützen aus Fuchspelz, sowie an den bis zur Erde
niederhängenden Pelzmänteln, mit welchen ihre Frauen zur Kirche schreiten."
Wenn die Städter so vor dem Landvolk einen gewissen Vorrang in äußerer
Beziehung behaupteten, so waren sie auch fast der einzige Theil des Volkes,
der eine gewisse geistige Cultur besaß. Denn auch der Hussitensturm hatte
die von der Kirche oder von den Stadtgemeinden gegründeten Schulen nicht
alle vernichtet. Butzbach selbst besuchte die Schulen in Kabau, Maschau
und Eger. Was er von ihnen berichtet, erinnert durchaus an die gleichzeitig
bestehenden Schulen deutscher Städte; freilich von ihrem inneren Leben er¬
fahren wir so gut wie nichts, weil der deutsche Knabe, der als Mönch seine
böhmischen Erinnerungen aufzeichnete, vor lauter Sorge um seine karge
äußere Existenz und hier und da auch vor Kirchendienst gar wenig zum
Lernen kam. Die Mehrzahl ihrer Besucher mögen Knaben und Jünglinge
aus der nächsten Nachbarschaft gewesen sein; doch trieb auch an diesen böh¬
mischen Schulen das Volk der fahrenden Schüler, der „Bacchanten" und
„Schützen" sein Wesen, wie Butzbach selber einer von ihnen war. Auch aus
deutschen Gegenden kamen sie, aus Franken unser Gewährsmann und seine
Genossen selber; in Maschau traf er Schüler aus Baiern, in Kabau gar solche
aus Wien. Ihr Leben war meist genau so wüst und erbärmlich wie ander¬
wärts; sie wohnten in sog. „Bursen" zusammen, hatten aber für ihren
Lebensunterhalt, soweit nicht der Kirchendienst etwas abwarf, selbst zu sorgen,
die jüngeren mußten deßhalb für die älteren betteln und wohl auch stehlen;
namentlich in der Entführung von Hühnern und Gänsen erwarb auch Butz¬
bach einige Gewandtheit. „Daß ich in solchen Geschäften", erzählt er, „fleißig
und gelehrig würde, dafür sorgte er (sein älterer Kamerad), nicht aber, daß
ich in Wissenschaft und Bildung Fortschritte machte. Ja ich weiß nicht, ob
ich jemals ein lateinisches Wort von ihm gelernt habe, denn er selbst war
unwissend und floh tüchtige Schulen, wo er selbst zum Studiren wäre an¬
gehalten worden; vielmehr suchte er die geringen und unbekannten auf, weil


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[0467] sucht, selbst im Winter. Butzbach fand z. B. einen Nürnberger Kaufmann mit Familie dort, der im eignen Wagen reiste. An den Jahrmarktstagen aber strömten Edelleute und Bauern in Menge nach den Städten, um dort zu kaufen und sich gütlich zu thun. „Die Sitten aber", erzählt Butzbach, „der Bürger und Stadtleute mögen sich doch wenig von denen des Landvolks unterscheiden, es sei denn durch größeren Reichthum oder durch die weitere und längere Kleidung, so sie tragen, oder durch das Haupthaar, welches sie sorgfältiger pflegen und entweder mit linnenen oder vielfarbigen Seitenbinden auf dem Scheide! zusammengebunden haben oder gekräuselt herunter hängen lassen. Auch tragen sie wohl das Haar in lange dünne Zöpfe getheilt unter den mit Fuchsfell gefütterten Hussitentalaren, oder man kann sie auch unter¬ scheiden an den hohen Mützen aus Fuchspelz, sowie an den bis zur Erde niederhängenden Pelzmänteln, mit welchen ihre Frauen zur Kirche schreiten." Wenn die Städter so vor dem Landvolk einen gewissen Vorrang in äußerer Beziehung behaupteten, so waren sie auch fast der einzige Theil des Volkes, der eine gewisse geistige Cultur besaß. Denn auch der Hussitensturm hatte die von der Kirche oder von den Stadtgemeinden gegründeten Schulen nicht alle vernichtet. Butzbach selbst besuchte die Schulen in Kabau, Maschau und Eger. Was er von ihnen berichtet, erinnert durchaus an die gleichzeitig bestehenden Schulen deutscher Städte; freilich von ihrem inneren Leben er¬ fahren wir so gut wie nichts, weil der deutsche Knabe, der als Mönch seine böhmischen Erinnerungen aufzeichnete, vor lauter Sorge um seine karge äußere Existenz und hier und da auch vor Kirchendienst gar wenig zum Lernen kam. Die Mehrzahl ihrer Besucher mögen Knaben und Jünglinge aus der nächsten Nachbarschaft gewesen sein; doch trieb auch an diesen böh¬ mischen Schulen das Volk der fahrenden Schüler, der „Bacchanten" und „Schützen" sein Wesen, wie Butzbach selber einer von ihnen war. Auch aus deutschen Gegenden kamen sie, aus Franken unser Gewährsmann und seine Genossen selber; in Maschau traf er Schüler aus Baiern, in Kabau gar solche aus Wien. Ihr Leben war meist genau so wüst und erbärmlich wie ander¬ wärts; sie wohnten in sog. „Bursen" zusammen, hatten aber für ihren Lebensunterhalt, soweit nicht der Kirchendienst etwas abwarf, selbst zu sorgen, die jüngeren mußten deßhalb für die älteren betteln und wohl auch stehlen; namentlich in der Entführung von Hühnern und Gänsen erwarb auch Butz¬ bach einige Gewandtheit. „Daß ich in solchen Geschäften", erzählt er, „fleißig und gelehrig würde, dafür sorgte er (sein älterer Kamerad), nicht aber, daß ich in Wissenschaft und Bildung Fortschritte machte. Ja ich weiß nicht, ob ich jemals ein lateinisches Wort von ihm gelernt habe, denn er selbst war unwissend und floh tüchtige Schulen, wo er selbst zum Studiren wäre an¬ gehalten worden; vielmehr suchte er die geringen und unbekannten auf, weil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/467>, abgerufen am 22.07.2024.