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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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schiedener auf Seiten der ersteren. Als er sein großes Geschichtswerk dem
Abschluß zuführte, war er in seinen Ansichten ein anderer, als zu der Zeit,
wo er mit Meisterhand die Anfänge der französischen Geschichte entwarf, oder
wo er von ausschließlich wissenschaftlichen Interessen beherrscht, sich zum Be¬
huf seiner römischen Geschichte in Niebuhr's Forschungen vertiefte, und
aus dem Studium Bico's die Grundgedanken seiner geschtchtsphilosophi-
schen Weltanschauung schöpfte. Von dem Augenblicke an, wo die Demo¬
kratie in Frankreich als selbständige und selbstbewußte Macht auftrat,
hatte sie in Michelet einen ihrer begeistertsten Apostel gewonnen. In seiner
eigenen Entwickelung spiegelt sich die Entwickelung des demokratischen Ge¬
dankens. Zwar war Michelet eine zu vornehme und zu fein organisirte
Natur, um an den Ausschweifungen seiner Partei Gefallen zu finden, und
zu einsichtsvoll, um nicht die wahnsinnigen communistischen Theorien, die als
äußerste Consequenzen aus dem demokratischen Princip gezogen wurden, abzu¬
weisen; er kämpfte ebenso energisch an gegen Alles, was das allgemeine
Bildungsniveau herabzudrücken geeignet schien, wie gegen die sittliche und
politische Verwilderung, welche eine nothwendige Folge des wüsten Trei¬
bens einer Demagogie war, die in beständigen Verschwörungen jeden gesunden
politischen Instinkt einbüßte und einen Classenkampf entzündete, der von bei¬
den Seiten mit der äußersten Erbitterung und Rücksichtslosigkeit geführt
wurde. Aber wie viel er auch im Einzelnen an der Haltung der radicalen
Demokratie auszusetzen haben mochte, ihre theoretischen Irrthümer und Illu¬
sionen theilte er, von den gegen Familie und Eigenthum gerichteten Doctrinen
abgesehen, vollkommen. Sein höchstes politisches Ziel war die consequente
Durchführung des abstrakten Gleichheitsvrincips, welches ihm für die stärkste
Triebkraft in der Geschichte der Menschheit galt. Die große Revolution hatte
die Gleichheit zum höchsten Princip der Gesellschaft erklärt, sie hatte die Ge-
sellschaft demokratisirt, und wenn der Staat dies nicht anerkennt, wenn er
ein Vorrecht der Geburt festzuhalten sucht, oder wenn er an die Stelle des¬
selben ein Vorrecht des Besitzes setzt und das Wahlrecht von einem Census
abhängig macht, so lehnt er sich wider ein Menschenrecht auf, das seine Weihe
bereits empfangen hat, das rückgängig machen zu wollen eine ganz unberech¬
tigte Reaction ist, ein willkürlicher Eingriff in die natürliche Entwickelung
der Dinge, gegen den jeder Widerstand erlaubt, ja geboten ist.

In diesen Anschauungen begegnete Michelet sich mit der demokratischen
Opposition, ohne sich unmittelbar an den Angriffen gegen das Julikönigthum
zu betheiligen. Dagegen nahmen seine Vorlesungen am College de France
mehr und mehr eine politische und vor Allem eine kirchenfeindliche Färbung
an. Dies ist ein Punkt, der eine eingehende Betrachtung erfordert, weil


schiedener auf Seiten der ersteren. Als er sein großes Geschichtswerk dem
Abschluß zuführte, war er in seinen Ansichten ein anderer, als zu der Zeit,
wo er mit Meisterhand die Anfänge der französischen Geschichte entwarf, oder
wo er von ausschließlich wissenschaftlichen Interessen beherrscht, sich zum Be¬
huf seiner römischen Geschichte in Niebuhr's Forschungen vertiefte, und
aus dem Studium Bico's die Grundgedanken seiner geschtchtsphilosophi-
schen Weltanschauung schöpfte. Von dem Augenblicke an, wo die Demo¬
kratie in Frankreich als selbständige und selbstbewußte Macht auftrat,
hatte sie in Michelet einen ihrer begeistertsten Apostel gewonnen. In seiner
eigenen Entwickelung spiegelt sich die Entwickelung des demokratischen Ge¬
dankens. Zwar war Michelet eine zu vornehme und zu fein organisirte
Natur, um an den Ausschweifungen seiner Partei Gefallen zu finden, und
zu einsichtsvoll, um nicht die wahnsinnigen communistischen Theorien, die als
äußerste Consequenzen aus dem demokratischen Princip gezogen wurden, abzu¬
weisen; er kämpfte ebenso energisch an gegen Alles, was das allgemeine
Bildungsniveau herabzudrücken geeignet schien, wie gegen die sittliche und
politische Verwilderung, welche eine nothwendige Folge des wüsten Trei¬
bens einer Demagogie war, die in beständigen Verschwörungen jeden gesunden
politischen Instinkt einbüßte und einen Classenkampf entzündete, der von bei¬
den Seiten mit der äußersten Erbitterung und Rücksichtslosigkeit geführt
wurde. Aber wie viel er auch im Einzelnen an der Haltung der radicalen
Demokratie auszusetzen haben mochte, ihre theoretischen Irrthümer und Illu¬
sionen theilte er, von den gegen Familie und Eigenthum gerichteten Doctrinen
abgesehen, vollkommen. Sein höchstes politisches Ziel war die consequente
Durchführung des abstrakten Gleichheitsvrincips, welches ihm für die stärkste
Triebkraft in der Geschichte der Menschheit galt. Die große Revolution hatte
die Gleichheit zum höchsten Princip der Gesellschaft erklärt, sie hatte die Ge-
sellschaft demokratisirt, und wenn der Staat dies nicht anerkennt, wenn er
ein Vorrecht der Geburt festzuhalten sucht, oder wenn er an die Stelle des¬
selben ein Vorrecht des Besitzes setzt und das Wahlrecht von einem Census
abhängig macht, so lehnt er sich wider ein Menschenrecht auf, das seine Weihe
bereits empfangen hat, das rückgängig machen zu wollen eine ganz unberech¬
tigte Reaction ist, ein willkürlicher Eingriff in die natürliche Entwickelung
der Dinge, gegen den jeder Widerstand erlaubt, ja geboten ist.

In diesen Anschauungen begegnete Michelet sich mit der demokratischen
Opposition, ohne sich unmittelbar an den Angriffen gegen das Julikönigthum
zu betheiligen. Dagegen nahmen seine Vorlesungen am College de France
mehr und mehr eine politische und vor Allem eine kirchenfeindliche Färbung
an. Dies ist ein Punkt, der eine eingehende Betrachtung erfordert, weil


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[0453] schiedener auf Seiten der ersteren. Als er sein großes Geschichtswerk dem Abschluß zuführte, war er in seinen Ansichten ein anderer, als zu der Zeit, wo er mit Meisterhand die Anfänge der französischen Geschichte entwarf, oder wo er von ausschließlich wissenschaftlichen Interessen beherrscht, sich zum Be¬ huf seiner römischen Geschichte in Niebuhr's Forschungen vertiefte, und aus dem Studium Bico's die Grundgedanken seiner geschtchtsphilosophi- schen Weltanschauung schöpfte. Von dem Augenblicke an, wo die Demo¬ kratie in Frankreich als selbständige und selbstbewußte Macht auftrat, hatte sie in Michelet einen ihrer begeistertsten Apostel gewonnen. In seiner eigenen Entwickelung spiegelt sich die Entwickelung des demokratischen Ge¬ dankens. Zwar war Michelet eine zu vornehme und zu fein organisirte Natur, um an den Ausschweifungen seiner Partei Gefallen zu finden, und zu einsichtsvoll, um nicht die wahnsinnigen communistischen Theorien, die als äußerste Consequenzen aus dem demokratischen Princip gezogen wurden, abzu¬ weisen; er kämpfte ebenso energisch an gegen Alles, was das allgemeine Bildungsniveau herabzudrücken geeignet schien, wie gegen die sittliche und politische Verwilderung, welche eine nothwendige Folge des wüsten Trei¬ bens einer Demagogie war, die in beständigen Verschwörungen jeden gesunden politischen Instinkt einbüßte und einen Classenkampf entzündete, der von bei¬ den Seiten mit der äußersten Erbitterung und Rücksichtslosigkeit geführt wurde. Aber wie viel er auch im Einzelnen an der Haltung der radicalen Demokratie auszusetzen haben mochte, ihre theoretischen Irrthümer und Illu¬ sionen theilte er, von den gegen Familie und Eigenthum gerichteten Doctrinen abgesehen, vollkommen. Sein höchstes politisches Ziel war die consequente Durchführung des abstrakten Gleichheitsvrincips, welches ihm für die stärkste Triebkraft in der Geschichte der Menschheit galt. Die große Revolution hatte die Gleichheit zum höchsten Princip der Gesellschaft erklärt, sie hatte die Ge- sellschaft demokratisirt, und wenn der Staat dies nicht anerkennt, wenn er ein Vorrecht der Geburt festzuhalten sucht, oder wenn er an die Stelle des¬ selben ein Vorrecht des Besitzes setzt und das Wahlrecht von einem Census abhängig macht, so lehnt er sich wider ein Menschenrecht auf, das seine Weihe bereits empfangen hat, das rückgängig machen zu wollen eine ganz unberech¬ tigte Reaction ist, ein willkürlicher Eingriff in die natürliche Entwickelung der Dinge, gegen den jeder Widerstand erlaubt, ja geboten ist. In diesen Anschauungen begegnete Michelet sich mit der demokratischen Opposition, ohne sich unmittelbar an den Angriffen gegen das Julikönigthum zu betheiligen. Dagegen nahmen seine Vorlesungen am College de France mehr und mehr eine politische und vor Allem eine kirchenfeindliche Färbung an. Dies ist ein Punkt, der eine eingehende Betrachtung erfordert, weil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/453>, abgerufen am 22.07.2024.