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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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lieber Leser -- "Marsch" -- behutsam über die von der Flut zerbrochenen
Ränder des Küsteneises, dann im Takte des Automaten 40--60.000 Schritte
weit über die bahnlose Wüste, die eigentlich ein Meer sein soll, ziehend und
schweigsam!"

Die Entdeckung des Tiroler Fjords war die letzte größere Excursion der
Germaniamänner im Jahre 1869 gewesen. Nun hatte im November die
Sonne, dieser Urquell alles Lichtes und Lebens, die kühnen Nordpolfahrer
verlassen und die dreimonatliche Polarnacht ihren Anfang genommen. Sofort
am 7. und 8. November, unmittelbar nach der Rückkehr der Entdecker des
Tiroler Fjords raste ein Nordsturm mit Schneetreiben über die Germania und
ihr Zeltdach hinweg, der alle bisherigen an Stärke und Dauer bei weitem
übertraf, die Mannschaft zum strengsten mehrtägigen Arrest im Schiffsraum
zwang und das ganze Deck unter dem Zeltdach mit mannshohen Schneewehen
füllte. Dieser Boreas wurde nur einmal überboten durch einen zweiten Sturm,
der in den Tagen vom 16. bis 20. December 103 Stunden lang ununter¬
brochen über die Germaniamänner hinbrauste, mit unvergleichlicher Wuth
und Stärke. Diese Windsbraut legte nach den Beobachtungen der Gelehrten
auf der Germania in der Stunde mindestens Is deutsche Meilen zurück; in
den 103 Stunden ihrer Dauer hätte sie also bei einer directen Richtung nach
Süden nicht nur den Aequator erreicht, sondern weiter darüber hinaus das
Südende von Afrika, hätte also weit über ein Viertheil des Erdumfanges
durchlaufen. Einer der Gelehrten, Dr. Bürgen hatte den Muth, während
dieser Sturm raste, an Land zu gehen und Ablesungen an der Sternwarte
Zu machen. Einmal wurde er vom Winde gepackt, förmlich in die Höhe ge¬
hoben und gegen zehn Schritt weit fortgeschleudert. Nur die Eisblöcke mit
dem Tau vom Schiff zur Sternwarte gewährten in solchen Fällen die Möglich-
lichkeit der Rettung. Denn das starke Schneetreiben benimmt die Aussicht
selbst auf wenige Schritte und erfüllt die Luftröhre und Lungen mit einem
trostlosen Kältegefühl, auch wenn man dem Schnee den Rücken zukehrt, der
rasende Wind scheint die Thätigkeit der Lungen, die Funktion des Gehirns
vollends lähmen zu wollen, die volle Aufmerksamkeit und alle Muskelkraft
Muß darauf 'gerichtet sein, festen Fuß zu behalten. Die wichtigste und ge¬
fährlichste Wirkung dieses außerordentlichen Sturmes hatte die Eisdecke um
das Schiff erfahren. Keine 300 Schritt mehr von demselben klaffte die zer¬
rissene Grenze des Eises, zog sich der dunkelschwarze Streifen des offenen
Wassers!

Zum großen Glück für unsere Seefahrer fand dieser grimmige Sturm
"Ur wenige und viel glimpflichere Nachfolger. Das Wetter war vielmehr im
Allgemeinen, auch im Winter recht erträglich, die Kälte im Maximum bis
26 und 28 Grad, an die man sich so sehr gewöhnte, daß sie Keinen belästigte.


lieber Leser — „Marsch" — behutsam über die von der Flut zerbrochenen
Ränder des Küsteneises, dann im Takte des Automaten 40—60.000 Schritte
weit über die bahnlose Wüste, die eigentlich ein Meer sein soll, ziehend und
schweigsam!"

Die Entdeckung des Tiroler Fjords war die letzte größere Excursion der
Germaniamänner im Jahre 1869 gewesen. Nun hatte im November die
Sonne, dieser Urquell alles Lichtes und Lebens, die kühnen Nordpolfahrer
verlassen und die dreimonatliche Polarnacht ihren Anfang genommen. Sofort
am 7. und 8. November, unmittelbar nach der Rückkehr der Entdecker des
Tiroler Fjords raste ein Nordsturm mit Schneetreiben über die Germania und
ihr Zeltdach hinweg, der alle bisherigen an Stärke und Dauer bei weitem
übertraf, die Mannschaft zum strengsten mehrtägigen Arrest im Schiffsraum
zwang und das ganze Deck unter dem Zeltdach mit mannshohen Schneewehen
füllte. Dieser Boreas wurde nur einmal überboten durch einen zweiten Sturm,
der in den Tagen vom 16. bis 20. December 103 Stunden lang ununter¬
brochen über die Germaniamänner hinbrauste, mit unvergleichlicher Wuth
und Stärke. Diese Windsbraut legte nach den Beobachtungen der Gelehrten
auf der Germania in der Stunde mindestens Is deutsche Meilen zurück; in
den 103 Stunden ihrer Dauer hätte sie also bei einer directen Richtung nach
Süden nicht nur den Aequator erreicht, sondern weiter darüber hinaus das
Südende von Afrika, hätte also weit über ein Viertheil des Erdumfanges
durchlaufen. Einer der Gelehrten, Dr. Bürgen hatte den Muth, während
dieser Sturm raste, an Land zu gehen und Ablesungen an der Sternwarte
Zu machen. Einmal wurde er vom Winde gepackt, förmlich in die Höhe ge¬
hoben und gegen zehn Schritt weit fortgeschleudert. Nur die Eisblöcke mit
dem Tau vom Schiff zur Sternwarte gewährten in solchen Fällen die Möglich-
lichkeit der Rettung. Denn das starke Schneetreiben benimmt die Aussicht
selbst auf wenige Schritte und erfüllt die Luftröhre und Lungen mit einem
trostlosen Kältegefühl, auch wenn man dem Schnee den Rücken zukehrt, der
rasende Wind scheint die Thätigkeit der Lungen, die Funktion des Gehirns
vollends lähmen zu wollen, die volle Aufmerksamkeit und alle Muskelkraft
Muß darauf 'gerichtet sein, festen Fuß zu behalten. Die wichtigste und ge¬
fährlichste Wirkung dieses außerordentlichen Sturmes hatte die Eisdecke um
das Schiff erfahren. Keine 300 Schritt mehr von demselben klaffte die zer¬
rissene Grenze des Eises, zog sich der dunkelschwarze Streifen des offenen
Wassers!

Zum großen Glück für unsere Seefahrer fand dieser grimmige Sturm
"Ur wenige und viel glimpflichere Nachfolger. Das Wetter war vielmehr im
Allgemeinen, auch im Winter recht erträglich, die Kälte im Maximum bis
26 und 28 Grad, an die man sich so sehr gewöhnte, daß sie Keinen belästigte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/315>, abgerufen am 25.08.2024.