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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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stillgefaßte Resignation gemahnt uns wie das letzte Kopfschütteln des alten
Klosterbruders gegenüber dem Novizen, ehe dieser das weltentsagende Ge¬
lübde ablegt. --

Gehorsam. Armuth, Cölibat -- es möchte sein! Aber Kälte, -- die
Kälte der "neuen Wiese", die im Sommer selbst nur von den scheidenden Strahlen
der Abendsonne flüchtig erwärmt wird, und im Winter mit der lieben Sonne
nur eine traditionelle Großmutterbekanntschaft unterhält -- nein! Diese
Kälte geht über jene Kasteiung, welche der prädestinirte Heilige, oder der ly¬
rische Tenor und der Sopran in der "Zauberflöte", in verschiedenen Acten
durchzumachen haben. Wenn die guten Carlsbader einmal um einen Orts¬
heiligen verlegen sind -- und eine recht kräftige Fürsprache beim lieben Gott
im Interesse der Straßenverbreiterung u. a. guter Dinge könnte der Stadt gar
nichts schaden -- so haben die Märtyrer, welche eine Weihnachtsnacht hin¬
durch auf der "neuen Wiese" ihrer Auferstehung entgegengefroren haben,
entschieden die erste Anwartschaft auf Kanonisirung. Nur, verräth leider
keine Fremdenliste die Namen der edeln Dulder. "Denn Oesterreich is jetzt
liberol," meinte der Wirth, "do is das polizeiliche Ongeb'n obgschafft."

Ein prachtvoller Frühmorgen kam über das Gebirg herauf, und schaute
herab in unsern Thalkessel. Es mochte halb acht Uhr sein, als der "Hir-
schensprung"-Felsen, dessen steinige Wand westlich von der "Alten Wiese"
steil abstürzt nach der Stadt, in röthltchem Licht erglühte. Zuerst streifte
nur ein weicher fast farbloser Hauch den obersten Rand des Gebirges. Schärfer
und schärfer traten dann die schneeloser Fichten und Buchen hervor, die da
oben die jähe Felswand krönen; dann zeichnete sich klar das Kreuz des Gipfels,
der kleine Tempel zur Rechten ab, dann wurde wärmer und wärmer der Kuß der
Frühsonne. Jeder Baum, jeder Stein, Kreuz und Tempel und der majestä¬
tische Fels schied in scharfen Contrasten die Linien und Flächen, die der
Himmelskönigin zugekehrt waren von den blauen kalten Schattenstreifen,
welche das Licht der Sonne nicht zu erreichen vermochte. Tiefer und tiefer
erglühte der Fels, der ganze Zug des Gebirges im Westen der Stadt. Erst
stieg das Licht langsam Zoll um Zoll thalwärts, dann schrittweise, dann
in fliegender Eile so wie uns Menschen die Zeit immer schneller dahingeht,
je höher die Sonne dem Zenith unsres Lebens zustrebt und darüber hinaus
gelangt ist. Das rothglühende Licht wurde immer falber und alltäglicher,
je allgemeiner die Sonne sich über die gegenüberliegenden Berge verbreitete.
So treten auch in unserm Leben die Linien der Kindheit und Jugend, die
von dem ersten Lichte der Erinnerung erhellt werden, am schärfsten und am
reichsten beleuchtet hervor. Was später mühsame Erkenntniß hinzugewinnt,
liegt schon im poesielosen allgemeinen Lichte des Mittags. Schon erreichte
die Sonne nun die höchsten Häuser der Stadt, bald darauf auch die merk-


stillgefaßte Resignation gemahnt uns wie das letzte Kopfschütteln des alten
Klosterbruders gegenüber dem Novizen, ehe dieser das weltentsagende Ge¬
lübde ablegt. —

Gehorsam. Armuth, Cölibat — es möchte sein! Aber Kälte, — die
Kälte der „neuen Wiese", die im Sommer selbst nur von den scheidenden Strahlen
der Abendsonne flüchtig erwärmt wird, und im Winter mit der lieben Sonne
nur eine traditionelle Großmutterbekanntschaft unterhält — nein! Diese
Kälte geht über jene Kasteiung, welche der prädestinirte Heilige, oder der ly¬
rische Tenor und der Sopran in der „Zauberflöte", in verschiedenen Acten
durchzumachen haben. Wenn die guten Carlsbader einmal um einen Orts¬
heiligen verlegen sind — und eine recht kräftige Fürsprache beim lieben Gott
im Interesse der Straßenverbreiterung u. a. guter Dinge könnte der Stadt gar
nichts schaden — so haben die Märtyrer, welche eine Weihnachtsnacht hin¬
durch auf der „neuen Wiese" ihrer Auferstehung entgegengefroren haben,
entschieden die erste Anwartschaft auf Kanonisirung. Nur, verräth leider
keine Fremdenliste die Namen der edeln Dulder. „Denn Oesterreich is jetzt
liberol," meinte der Wirth, „do is das polizeiliche Ongeb'n obgschafft."

Ein prachtvoller Frühmorgen kam über das Gebirg herauf, und schaute
herab in unsern Thalkessel. Es mochte halb acht Uhr sein, als der „Hir-
schensprung"-Felsen, dessen steinige Wand westlich von der „Alten Wiese"
steil abstürzt nach der Stadt, in röthltchem Licht erglühte. Zuerst streifte
nur ein weicher fast farbloser Hauch den obersten Rand des Gebirges. Schärfer
und schärfer traten dann die schneeloser Fichten und Buchen hervor, die da
oben die jähe Felswand krönen; dann zeichnete sich klar das Kreuz des Gipfels,
der kleine Tempel zur Rechten ab, dann wurde wärmer und wärmer der Kuß der
Frühsonne. Jeder Baum, jeder Stein, Kreuz und Tempel und der majestä¬
tische Fels schied in scharfen Contrasten die Linien und Flächen, die der
Himmelskönigin zugekehrt waren von den blauen kalten Schattenstreifen,
welche das Licht der Sonne nicht zu erreichen vermochte. Tiefer und tiefer
erglühte der Fels, der ganze Zug des Gebirges im Westen der Stadt. Erst
stieg das Licht langsam Zoll um Zoll thalwärts, dann schrittweise, dann
in fliegender Eile so wie uns Menschen die Zeit immer schneller dahingeht,
je höher die Sonne dem Zenith unsres Lebens zustrebt und darüber hinaus
gelangt ist. Das rothglühende Licht wurde immer falber und alltäglicher,
je allgemeiner die Sonne sich über die gegenüberliegenden Berge verbreitete.
So treten auch in unserm Leben die Linien der Kindheit und Jugend, die
von dem ersten Lichte der Erinnerung erhellt werden, am schärfsten und am
reichsten beleuchtet hervor. Was später mühsame Erkenntniß hinzugewinnt,
liegt schon im poesielosen allgemeinen Lichte des Mittags. Schon erreichte
die Sonne nun die höchsten Häuser der Stadt, bald darauf auch die merk-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/69>, abgerufen am 25.12.2024.