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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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heit tragen. Sie liefern zugleich eine von beiden Seiten ungeahnte Bestäti¬
gung jener zum erstenmal vollständig klärenden Aufschlüsse, die Fr. From-
mann 1870 in seinem so inhaltreichen kleinen Buche "Das Frommann'sche
Haus und seine Freunde" gegeben hat. Die Characterzeichnung des Urbilds
der Goethe'schen Ottilie -- denn das bleibt sie, auch wenn alles Andere, was
über ihre Herzensbeziehungen zu Goethe herumgetragen wird, als Erfindungen
des müßigen Klatsches sich erweist -- stimmt hier und dort Zug für Zug
und die Seidler'sche ist dadurch noch der Frommann'schen überlegen, daß sie
zugleich eine mit feiner Künstlerhand angelegte Portraitskizze des Aeußeren
giebt; "Minna war die lieblichste aller jungfräulichen Rosen, mit kindlichen
Zügen, mit großen dunkeln Augen -- die mehr sanft und freundlich als
feurig --, Jeden herzig unschuldsvoll anblickten und bezaubern mußten. Die
Flechten glänzend schwarz, das anmuthige Gesicht vom warmen Hauche eines
frischen Colorits belebt, die Gestalt schlank und biegsam, vom schönsten Eben¬
maaße, edel und graziös in allen ihren Bewegungen, so steht Minna Herzlich
noch heute vor meinem Gedächtniß. Ihr Anzug war stets einfach, aber ge¬
schmackvoll; sie liebte schlichte weiße Kleider; in einem solchen habe ich sie
lebensgroß in Oel gemalt. Gewöhnlich trug sie auch beim Ausgehen keinen
Hut, sondern nur ein kleines Knüpftüchelchen, unter dem Kinn zugebunden."
Natürlich war die allverbreitete Sage ihrer unglücklichen Liebe zu Goethe auch
zu den Ohren ihrer Jugendfreundin gedrungen. Sie sagt darüber: "Für
Goethe, den älteren Mann, den berühmten Dichter, der sie der freundlichsten
und zartesten Aufmerksamkeit würdigte, empfand sie eine tiefe Verehrung,
allein daß diese sich zur Leidenschaft gesteigert habe, wie Einige nach dem Er¬
scheinen der Sonette, namentlich der vielberufenen Charade, muthmaßen
wollten, wurde von Allen, welche Minchen näher kannten, entschieden in Ab¬
rede gestellt. Sie nannte Goethe ihr ganzes Leben lang nur. "den lieben
alten Herrn". Der Freundin ist es ebenso klar, wie ihrem Pflegebruder
Fr. Frommann. daß Goethe'n auch nicht der Schatten einer Schuld wegen der
spätern traurigen Schicksale dieser ebenso reizenden wie räthselhaften Wunder¬
blume zur Last falle. Das Unglück ihrer Ehe, an dem sie ein langes Leben
dahinsiechte und endlich jämmerlich verkam, ist ganz allein ihr selbstgewolltes
Berhängniß, wenn man dies harte Wort einem so zarten Geschöpf gegenüber
brauchen will.

Ueberhaupt liegt ein wesentliches Stück der Bedeutung dieser Memoiren
in den mannichfaltigen Bildern aus den Jenaischen Zuständen von 1790--
1805. Es war, wie man weiß, die glänzendste Zeit, die jemals über dem
alten Saal-Athen aufgegangen ist, und Luise Seidler hat sie in der für einen
Darsteller doppelt wünschenswerten Eigenschaft, als Eingeborene und zugleich
als anderswo, vor allem in Weimar, dann an den schwächeren Lichtcentren


heit tragen. Sie liefern zugleich eine von beiden Seiten ungeahnte Bestäti¬
gung jener zum erstenmal vollständig klärenden Aufschlüsse, die Fr. From-
mann 1870 in seinem so inhaltreichen kleinen Buche „Das Frommann'sche
Haus und seine Freunde" gegeben hat. Die Characterzeichnung des Urbilds
der Goethe'schen Ottilie — denn das bleibt sie, auch wenn alles Andere, was
über ihre Herzensbeziehungen zu Goethe herumgetragen wird, als Erfindungen
des müßigen Klatsches sich erweist — stimmt hier und dort Zug für Zug
und die Seidler'sche ist dadurch noch der Frommann'schen überlegen, daß sie
zugleich eine mit feiner Künstlerhand angelegte Portraitskizze des Aeußeren
giebt; „Minna war die lieblichste aller jungfräulichen Rosen, mit kindlichen
Zügen, mit großen dunkeln Augen — die mehr sanft und freundlich als
feurig —, Jeden herzig unschuldsvoll anblickten und bezaubern mußten. Die
Flechten glänzend schwarz, das anmuthige Gesicht vom warmen Hauche eines
frischen Colorits belebt, die Gestalt schlank und biegsam, vom schönsten Eben¬
maaße, edel und graziös in allen ihren Bewegungen, so steht Minna Herzlich
noch heute vor meinem Gedächtniß. Ihr Anzug war stets einfach, aber ge¬
schmackvoll; sie liebte schlichte weiße Kleider; in einem solchen habe ich sie
lebensgroß in Oel gemalt. Gewöhnlich trug sie auch beim Ausgehen keinen
Hut, sondern nur ein kleines Knüpftüchelchen, unter dem Kinn zugebunden."
Natürlich war die allverbreitete Sage ihrer unglücklichen Liebe zu Goethe auch
zu den Ohren ihrer Jugendfreundin gedrungen. Sie sagt darüber: „Für
Goethe, den älteren Mann, den berühmten Dichter, der sie der freundlichsten
und zartesten Aufmerksamkeit würdigte, empfand sie eine tiefe Verehrung,
allein daß diese sich zur Leidenschaft gesteigert habe, wie Einige nach dem Er¬
scheinen der Sonette, namentlich der vielberufenen Charade, muthmaßen
wollten, wurde von Allen, welche Minchen näher kannten, entschieden in Ab¬
rede gestellt. Sie nannte Goethe ihr ganzes Leben lang nur. „den lieben
alten Herrn". Der Freundin ist es ebenso klar, wie ihrem Pflegebruder
Fr. Frommann. daß Goethe'n auch nicht der Schatten einer Schuld wegen der
spätern traurigen Schicksale dieser ebenso reizenden wie räthselhaften Wunder¬
blume zur Last falle. Das Unglück ihrer Ehe, an dem sie ein langes Leben
dahinsiechte und endlich jämmerlich verkam, ist ganz allein ihr selbstgewolltes
Berhängniß, wenn man dies harte Wort einem so zarten Geschöpf gegenüber
brauchen will.

Ueberhaupt liegt ein wesentliches Stück der Bedeutung dieser Memoiren
in den mannichfaltigen Bildern aus den Jenaischen Zuständen von 1790—
1805. Es war, wie man weiß, die glänzendste Zeit, die jemals über dem
alten Saal-Athen aufgegangen ist, und Luise Seidler hat sie in der für einen
Darsteller doppelt wünschenswerten Eigenschaft, als Eingeborene und zugleich
als anderswo, vor allem in Weimar, dann an den schwächeren Lichtcentren


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[0451] heit tragen. Sie liefern zugleich eine von beiden Seiten ungeahnte Bestäti¬ gung jener zum erstenmal vollständig klärenden Aufschlüsse, die Fr. From- mann 1870 in seinem so inhaltreichen kleinen Buche „Das Frommann'sche Haus und seine Freunde" gegeben hat. Die Characterzeichnung des Urbilds der Goethe'schen Ottilie — denn das bleibt sie, auch wenn alles Andere, was über ihre Herzensbeziehungen zu Goethe herumgetragen wird, als Erfindungen des müßigen Klatsches sich erweist — stimmt hier und dort Zug für Zug und die Seidler'sche ist dadurch noch der Frommann'schen überlegen, daß sie zugleich eine mit feiner Künstlerhand angelegte Portraitskizze des Aeußeren giebt; „Minna war die lieblichste aller jungfräulichen Rosen, mit kindlichen Zügen, mit großen dunkeln Augen — die mehr sanft und freundlich als feurig —, Jeden herzig unschuldsvoll anblickten und bezaubern mußten. Die Flechten glänzend schwarz, das anmuthige Gesicht vom warmen Hauche eines frischen Colorits belebt, die Gestalt schlank und biegsam, vom schönsten Eben¬ maaße, edel und graziös in allen ihren Bewegungen, so steht Minna Herzlich noch heute vor meinem Gedächtniß. Ihr Anzug war stets einfach, aber ge¬ schmackvoll; sie liebte schlichte weiße Kleider; in einem solchen habe ich sie lebensgroß in Oel gemalt. Gewöhnlich trug sie auch beim Ausgehen keinen Hut, sondern nur ein kleines Knüpftüchelchen, unter dem Kinn zugebunden." Natürlich war die allverbreitete Sage ihrer unglücklichen Liebe zu Goethe auch zu den Ohren ihrer Jugendfreundin gedrungen. Sie sagt darüber: „Für Goethe, den älteren Mann, den berühmten Dichter, der sie der freundlichsten und zartesten Aufmerksamkeit würdigte, empfand sie eine tiefe Verehrung, allein daß diese sich zur Leidenschaft gesteigert habe, wie Einige nach dem Er¬ scheinen der Sonette, namentlich der vielberufenen Charade, muthmaßen wollten, wurde von Allen, welche Minchen näher kannten, entschieden in Ab¬ rede gestellt. Sie nannte Goethe ihr ganzes Leben lang nur. „den lieben alten Herrn". Der Freundin ist es ebenso klar, wie ihrem Pflegebruder Fr. Frommann. daß Goethe'n auch nicht der Schatten einer Schuld wegen der spätern traurigen Schicksale dieser ebenso reizenden wie räthselhaften Wunder¬ blume zur Last falle. Das Unglück ihrer Ehe, an dem sie ein langes Leben dahinsiechte und endlich jämmerlich verkam, ist ganz allein ihr selbstgewolltes Berhängniß, wenn man dies harte Wort einem so zarten Geschöpf gegenüber brauchen will. Ueberhaupt liegt ein wesentliches Stück der Bedeutung dieser Memoiren in den mannichfaltigen Bildern aus den Jenaischen Zuständen von 1790— 1805. Es war, wie man weiß, die glänzendste Zeit, die jemals über dem alten Saal-Athen aufgegangen ist, und Luise Seidler hat sie in der für einen Darsteller doppelt wünschenswerten Eigenschaft, als Eingeborene und zugleich als anderswo, vor allem in Weimar, dann an den schwächeren Lichtcentren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/451>, abgerufen am 26.12.2024.