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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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wünschten gern ein geringeres Militärbudget und einen größern Etat für Schul -
und Bildungszwecke. Die Zustände, die für die Arbeiterbevölkerungen aus
dem Umsichgreifen der Arbeitstheilung entstanden sind, werden gleichfalls von
Niemandem abgeleugnet, der Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat.
Die ungleiche Gütervertheilung als historisch gegebenes Factum wird auch
von den Vertretern andrer Parteien als eine Calamität angesehn -- aber wo
sind die Mittel um Abhülfe zu schaffen? Eine entsprechendere Vertheilung des
Nationalwohlstandes kann nur durch Bildung und Hebung der Arbeitermassen
herbeigeführt werden. Bildung und Urtheilsfähigkeit gestatten dem Unbe¬
mittelten mit dem Wohlhabenden zu concurriren und auf diese Weise wird
es nach und nach zu einer Besserung der gesellschaftlichen Zustände kommen.
Aber das ist eine Sache, die Zeit und Anstrengung verlangt, die durchaus
nicht im Handumdrehen abgethan werden kann. Durch rohe Gewalt oder
durch einen Machtspruch des Staates könnte wohl auf ganz kurze Zeit etwas
erreicht werden, aber die Uebelstände würden dann nur massenhafter und
schrecklicher wiederkehren. Die Führer der socialistischen Partei befolgen ab¬
sichtlich die Taktik, daß sie den Arbeitermassen gegenüber von Arbeiterin¬
teressen sprechen, in dem Sinne, als ob diese Interessen von den übrigen
Staatsbürgern nicht getheilt würden.

Für den echten Socialisten zerfällt die Gesellschaft in drei Klassen: inCa-
pitalistcn, Bourgeois und Arbeiter. Die erstgenannte und die letzter¬
wähnte sind nach seiner Versicherung offene Feinde und Antagonismen. Die
Bourgeoisie steht zwischen beiden in der Mitte und verhindert einen erfolgreichen
und heftigen Zusammenstoß. Der Bourgeois ist mit seinen Interessen natür¬
lich mehr dem Capitale als dem Arbeiter zugewandt, weil er von oben her,
vom Capitale aus, Schutz und Existenz erhält. Auf diese Weise steht der Ar¬
beiter ganz allein und er muß alles Mögliche daran setzen, um sich als Mensch
überhaupt geltend zu machen. Bei dieser Beleuchtung der gesellschaftlichen
Verhältnisse muß der Arbeiter die Interessen der andern Stände als den sei¬
nigen entgegengesetzt und feindlich betrachten. Diese von Lassalle herrührende
Schilderung der Gesellschaft hat großen Eindruck gemacht und ist zu einer
gefärbten Parteibrille geworden, durch die man die vergangenen und gegen¬
wärtigen Zeitläufte betrachtet. Wie irrige und gehässige Ansichten sich an
solche fixe Ideen knüpfen können, liegt klar aus der Hand. Der Arbeiter
wendet sich von der verhaßten Gegenwart ab und blickt vertrauensvoll in die
nähere oder fernere Zukunft, die ihm den Arbeiterstaat bringen wird. Dieser
Arbeiterstaat ist das Ideal des Socialisten. Dann wird wirkliche
und wahre Freiheit herrschen. Irgendwie wird es geschehen, daß das Capital
in die Hände der Arbeiter fällt; irgend ein Umstand wird herbeiführen, daß
es in rascher und wunderbarer Weis? vertheilt und dem Einzelnen zur Be-


wünschten gern ein geringeres Militärbudget und einen größern Etat für Schul -
und Bildungszwecke. Die Zustände, die für die Arbeiterbevölkerungen aus
dem Umsichgreifen der Arbeitstheilung entstanden sind, werden gleichfalls von
Niemandem abgeleugnet, der Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat.
Die ungleiche Gütervertheilung als historisch gegebenes Factum wird auch
von den Vertretern andrer Parteien als eine Calamität angesehn — aber wo
sind die Mittel um Abhülfe zu schaffen? Eine entsprechendere Vertheilung des
Nationalwohlstandes kann nur durch Bildung und Hebung der Arbeitermassen
herbeigeführt werden. Bildung und Urtheilsfähigkeit gestatten dem Unbe¬
mittelten mit dem Wohlhabenden zu concurriren und auf diese Weise wird
es nach und nach zu einer Besserung der gesellschaftlichen Zustände kommen.
Aber das ist eine Sache, die Zeit und Anstrengung verlangt, die durchaus
nicht im Handumdrehen abgethan werden kann. Durch rohe Gewalt oder
durch einen Machtspruch des Staates könnte wohl auf ganz kurze Zeit etwas
erreicht werden, aber die Uebelstände würden dann nur massenhafter und
schrecklicher wiederkehren. Die Führer der socialistischen Partei befolgen ab¬
sichtlich die Taktik, daß sie den Arbeitermassen gegenüber von Arbeiterin¬
teressen sprechen, in dem Sinne, als ob diese Interessen von den übrigen
Staatsbürgern nicht getheilt würden.

Für den echten Socialisten zerfällt die Gesellschaft in drei Klassen: inCa-
pitalistcn, Bourgeois und Arbeiter. Die erstgenannte und die letzter¬
wähnte sind nach seiner Versicherung offene Feinde und Antagonismen. Die
Bourgeoisie steht zwischen beiden in der Mitte und verhindert einen erfolgreichen
und heftigen Zusammenstoß. Der Bourgeois ist mit seinen Interessen natür¬
lich mehr dem Capitale als dem Arbeiter zugewandt, weil er von oben her,
vom Capitale aus, Schutz und Existenz erhält. Auf diese Weise steht der Ar¬
beiter ganz allein und er muß alles Mögliche daran setzen, um sich als Mensch
überhaupt geltend zu machen. Bei dieser Beleuchtung der gesellschaftlichen
Verhältnisse muß der Arbeiter die Interessen der andern Stände als den sei¬
nigen entgegengesetzt und feindlich betrachten. Diese von Lassalle herrührende
Schilderung der Gesellschaft hat großen Eindruck gemacht und ist zu einer
gefärbten Parteibrille geworden, durch die man die vergangenen und gegen¬
wärtigen Zeitläufte betrachtet. Wie irrige und gehässige Ansichten sich an
solche fixe Ideen knüpfen können, liegt klar aus der Hand. Der Arbeiter
wendet sich von der verhaßten Gegenwart ab und blickt vertrauensvoll in die
nähere oder fernere Zukunft, die ihm den Arbeiterstaat bringen wird. Dieser
Arbeiterstaat ist das Ideal des Socialisten. Dann wird wirkliche
und wahre Freiheit herrschen. Irgendwie wird es geschehen, daß das Capital
in die Hände der Arbeiter fällt; irgend ein Umstand wird herbeiführen, daß
es in rascher und wunderbarer Weis? vertheilt und dem Einzelnen zur Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/347>, abgerufen am 04.11.2024.