Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Thatsache der ungleichen Gütervertheilung wird Niemand leugnen
und jeder wird zugeben müssen, daß es viel wichtiger für einen Staat ist,
das Nationalvermögen richtig zu vertheilen als dasselbe noch mehr zu steigern.
Jeder Realpolitiker wird mit dieser Behauptung einverstanden sein. Aber wie
diese rechte Vertheilung bewerkstelligt werden soll -- das ist die schwierige
Frage. Diese Frage im Handumdrehen zu lösen, ist ganz unmöglich. Aber
das ist es gerade wieder, was die socialistische Partei wünscht. Eine Ange¬
legenheit, die nur durch die anstrengende Bemühung von Generationen zu
fördern ist -- soll in fabelhaft kurzer Zeit erledigt werden. Es fehlt eben
an jeglicher Einsicht in die Art und Weise, wie sich der Staatsorganismus
allmählig entwickelt hat. Man hat kein Zeitmaß für die Dauer, die gewisse
Entwicklungsperioden des Staatslebens für sich in Anspruch nehmen. Daher
die Ungeduld und die Hast -- mit der die Partei agirt. Aber auch durch
die beste Gesetzgebung, durch die genauesten und gründlichsten Steuerreformen
lassen sich Ziele, die nur auf historischem Wege erreicht werden können, nicht
anticipiren.

Hier kommt auch ein Fehler zu Tage, den wir an unserm gesammten
Geschichtsunterricht zu rügen haben. Die Weltgeschichte wird der Jugend ge¬
wöhnlich so vorgetragen, daß es den Schein erweckt, als ob Alles was im
Verlaufe der Jahrhunderte sich ereignet hat, auch in viel kürzerer Zeit hätte
geschehen können, wenn von diesem und jenem Kaiser, von dem und jenem
Feldherrn die Sache anders angefaßt worden wäre. Einen Begriff von der
historischen Entwicklung erwerben wir in unsern Schuljahren nicht, und doch
ist dieser Begriff so dringend nöthig zu einer gesunden Auffassung des staat¬
lichen und gesellschaftlichen Lebens. Der Einwand, daß auch mancher Lehrer
diesen Begriff nicht besitze, und daß man also nicht verlangen könne, ihn
Knaben beigebracht zu sehen, ist nicht stichhaltig. Denn mancher Lehrer der
Geschichte thäte eben besser daran, wenn er etwas anderes lehrte.

So ist auch die ungleiche Vertheilung der Güter eine geschicht¬
lich gegebene Thatsache, die sich nicht im Handumwenden beseitigen läßt.
Hier Abhülfe zu schaffen und eine gerechtere Vertheilung zu erzielen, ist der
Wunsch aller liberalen Parteien und nicht bloß der Wunsch der socialdemo¬
kratischen Partei allein. Die Vertheilungsfrage kann auch niemals ohne
Weiteres über den ganzen Staat hinweg gelöst werden. Die Lösung der
Frage muß ganz in concreto beginnen. Wenn sich die Arbeiter einer Fabrik
übervortheilt und ausgebeutet sehen, so müssen sie sich zunächst mit ihrem
Chef auseinandersetzen. Wie sie das machen, ist ihre Sache. Bleibt die Aus¬
einandersetzung resultatlos, so kann auch der Staat keine Abhülfe schaffen.
Denn wo sollten alle die Beamten herkommen, um eingreifende Enquöten
über die Vermögenslage der Fabrikanten anzustellen. Da würde es zu Steuer-


Gttiizboten l. 1571. ,

Die Thatsache der ungleichen Gütervertheilung wird Niemand leugnen
und jeder wird zugeben müssen, daß es viel wichtiger für einen Staat ist,
das Nationalvermögen richtig zu vertheilen als dasselbe noch mehr zu steigern.
Jeder Realpolitiker wird mit dieser Behauptung einverstanden sein. Aber wie
diese rechte Vertheilung bewerkstelligt werden soll — das ist die schwierige
Frage. Diese Frage im Handumdrehen zu lösen, ist ganz unmöglich. Aber
das ist es gerade wieder, was die socialistische Partei wünscht. Eine Ange¬
legenheit, die nur durch die anstrengende Bemühung von Generationen zu
fördern ist — soll in fabelhaft kurzer Zeit erledigt werden. Es fehlt eben
an jeglicher Einsicht in die Art und Weise, wie sich der Staatsorganismus
allmählig entwickelt hat. Man hat kein Zeitmaß für die Dauer, die gewisse
Entwicklungsperioden des Staatslebens für sich in Anspruch nehmen. Daher
die Ungeduld und die Hast — mit der die Partei agirt. Aber auch durch
die beste Gesetzgebung, durch die genauesten und gründlichsten Steuerreformen
lassen sich Ziele, die nur auf historischem Wege erreicht werden können, nicht
anticipiren.

Hier kommt auch ein Fehler zu Tage, den wir an unserm gesammten
Geschichtsunterricht zu rügen haben. Die Weltgeschichte wird der Jugend ge¬
wöhnlich so vorgetragen, daß es den Schein erweckt, als ob Alles was im
Verlaufe der Jahrhunderte sich ereignet hat, auch in viel kürzerer Zeit hätte
geschehen können, wenn von diesem und jenem Kaiser, von dem und jenem
Feldherrn die Sache anders angefaßt worden wäre. Einen Begriff von der
historischen Entwicklung erwerben wir in unsern Schuljahren nicht, und doch
ist dieser Begriff so dringend nöthig zu einer gesunden Auffassung des staat¬
lichen und gesellschaftlichen Lebens. Der Einwand, daß auch mancher Lehrer
diesen Begriff nicht besitze, und daß man also nicht verlangen könne, ihn
Knaben beigebracht zu sehen, ist nicht stichhaltig. Denn mancher Lehrer der
Geschichte thäte eben besser daran, wenn er etwas anderes lehrte.

So ist auch die ungleiche Vertheilung der Güter eine geschicht¬
lich gegebene Thatsache, die sich nicht im Handumwenden beseitigen läßt.
Hier Abhülfe zu schaffen und eine gerechtere Vertheilung zu erzielen, ist der
Wunsch aller liberalen Parteien und nicht bloß der Wunsch der socialdemo¬
kratischen Partei allein. Die Vertheilungsfrage kann auch niemals ohne
Weiteres über den ganzen Staat hinweg gelöst werden. Die Lösung der
Frage muß ganz in concreto beginnen. Wenn sich die Arbeiter einer Fabrik
übervortheilt und ausgebeutet sehen, so müssen sie sich zunächst mit ihrem
Chef auseinandersetzen. Wie sie das machen, ist ihre Sache. Bleibt die Aus¬
einandersetzung resultatlos, so kann auch der Staat keine Abhülfe schaffen.
Denn wo sollten alle die Beamten herkommen, um eingreifende Enquöten
über die Vermögenslage der Fabrikanten anzustellen. Da würde es zu Steuer-


Gttiizboten l. 1571. ,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130987"/>
          <p xml:id="ID_1018"> Die Thatsache der ungleichen Gütervertheilung wird Niemand leugnen<lb/>
und jeder wird zugeben müssen, daß es viel wichtiger für einen Staat ist,<lb/>
das Nationalvermögen richtig zu vertheilen als dasselbe noch mehr zu steigern.<lb/>
Jeder Realpolitiker wird mit dieser Behauptung einverstanden sein. Aber wie<lb/>
diese rechte Vertheilung bewerkstelligt werden soll &#x2014; das ist die schwierige<lb/>
Frage. Diese Frage im Handumdrehen zu lösen, ist ganz unmöglich. Aber<lb/>
das ist es gerade wieder, was die socialistische Partei wünscht. Eine Ange¬<lb/>
legenheit, die nur durch die anstrengende Bemühung von Generationen zu<lb/>
fördern ist &#x2014; soll in fabelhaft kurzer Zeit erledigt werden. Es fehlt eben<lb/>
an jeglicher Einsicht in die Art und Weise, wie sich der Staatsorganismus<lb/>
allmählig entwickelt hat. Man hat kein Zeitmaß für die Dauer, die gewisse<lb/>
Entwicklungsperioden des Staatslebens für sich in Anspruch nehmen. Daher<lb/>
die Ungeduld und die Hast &#x2014; mit der die Partei agirt. Aber auch durch<lb/>
die beste Gesetzgebung, durch die genauesten und gründlichsten Steuerreformen<lb/>
lassen sich Ziele, die nur auf historischem Wege erreicht werden können, nicht<lb/>
anticipiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1019"> Hier kommt auch ein Fehler zu Tage, den wir an unserm gesammten<lb/>
Geschichtsunterricht zu rügen haben. Die Weltgeschichte wird der Jugend ge¬<lb/>
wöhnlich so vorgetragen, daß es den Schein erweckt, als ob Alles was im<lb/>
Verlaufe der Jahrhunderte sich ereignet hat, auch in viel kürzerer Zeit hätte<lb/>
geschehen können, wenn von diesem und jenem Kaiser, von dem und jenem<lb/>
Feldherrn die Sache anders angefaßt worden wäre. Einen Begriff von der<lb/>
historischen Entwicklung erwerben wir in unsern Schuljahren nicht, und doch<lb/>
ist dieser Begriff so dringend nöthig zu einer gesunden Auffassung des staat¬<lb/>
lichen und gesellschaftlichen Lebens. Der Einwand, daß auch mancher Lehrer<lb/>
diesen Begriff nicht besitze, und daß man also nicht verlangen könne, ihn<lb/>
Knaben beigebracht zu sehen, ist nicht stichhaltig. Denn mancher Lehrer der<lb/>
Geschichte thäte eben besser daran, wenn er etwas anderes lehrte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1020" next="#ID_1021"> So ist auch die ungleiche Vertheilung der Güter eine geschicht¬<lb/>
lich gegebene Thatsache, die sich nicht im Handumwenden beseitigen läßt.<lb/>
Hier Abhülfe zu schaffen und eine gerechtere Vertheilung zu erzielen, ist der<lb/>
Wunsch aller liberalen Parteien und nicht bloß der Wunsch der socialdemo¬<lb/>
kratischen Partei allein. Die Vertheilungsfrage kann auch niemals ohne<lb/>
Weiteres über den ganzen Staat hinweg gelöst werden. Die Lösung der<lb/>
Frage muß ganz in concreto beginnen. Wenn sich die Arbeiter einer Fabrik<lb/>
übervortheilt und ausgebeutet sehen, so müssen sie sich zunächst mit ihrem<lb/>
Chef auseinandersetzen. Wie sie das machen, ist ihre Sache. Bleibt die Aus¬<lb/>
einandersetzung resultatlos, so kann auch der Staat keine Abhülfe schaffen.<lb/>
Denn wo sollten alle die Beamten herkommen, um eingreifende Enquöten<lb/>
über die Vermögenslage der Fabrikanten anzustellen. Da würde es zu Steuer-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gttiizboten l. 1571. ,</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] Die Thatsache der ungleichen Gütervertheilung wird Niemand leugnen und jeder wird zugeben müssen, daß es viel wichtiger für einen Staat ist, das Nationalvermögen richtig zu vertheilen als dasselbe noch mehr zu steigern. Jeder Realpolitiker wird mit dieser Behauptung einverstanden sein. Aber wie diese rechte Vertheilung bewerkstelligt werden soll — das ist die schwierige Frage. Diese Frage im Handumdrehen zu lösen, ist ganz unmöglich. Aber das ist es gerade wieder, was die socialistische Partei wünscht. Eine Ange¬ legenheit, die nur durch die anstrengende Bemühung von Generationen zu fördern ist — soll in fabelhaft kurzer Zeit erledigt werden. Es fehlt eben an jeglicher Einsicht in die Art und Weise, wie sich der Staatsorganismus allmählig entwickelt hat. Man hat kein Zeitmaß für die Dauer, die gewisse Entwicklungsperioden des Staatslebens für sich in Anspruch nehmen. Daher die Ungeduld und die Hast — mit der die Partei agirt. Aber auch durch die beste Gesetzgebung, durch die genauesten und gründlichsten Steuerreformen lassen sich Ziele, die nur auf historischem Wege erreicht werden können, nicht anticipiren. Hier kommt auch ein Fehler zu Tage, den wir an unserm gesammten Geschichtsunterricht zu rügen haben. Die Weltgeschichte wird der Jugend ge¬ wöhnlich so vorgetragen, daß es den Schein erweckt, als ob Alles was im Verlaufe der Jahrhunderte sich ereignet hat, auch in viel kürzerer Zeit hätte geschehen können, wenn von diesem und jenem Kaiser, von dem und jenem Feldherrn die Sache anders angefaßt worden wäre. Einen Begriff von der historischen Entwicklung erwerben wir in unsern Schuljahren nicht, und doch ist dieser Begriff so dringend nöthig zu einer gesunden Auffassung des staat¬ lichen und gesellschaftlichen Lebens. Der Einwand, daß auch mancher Lehrer diesen Begriff nicht besitze, und daß man also nicht verlangen könne, ihn Knaben beigebracht zu sehen, ist nicht stichhaltig. Denn mancher Lehrer der Geschichte thäte eben besser daran, wenn er etwas anderes lehrte. So ist auch die ungleiche Vertheilung der Güter eine geschicht¬ lich gegebene Thatsache, die sich nicht im Handumwenden beseitigen läßt. Hier Abhülfe zu schaffen und eine gerechtere Vertheilung zu erzielen, ist der Wunsch aller liberalen Parteien und nicht bloß der Wunsch der socialdemo¬ kratischen Partei allein. Die Vertheilungsfrage kann auch niemals ohne Weiteres über den ganzen Staat hinweg gelöst werden. Die Lösung der Frage muß ganz in concreto beginnen. Wenn sich die Arbeiter einer Fabrik übervortheilt und ausgebeutet sehen, so müssen sie sich zunächst mit ihrem Chef auseinandersetzen. Wie sie das machen, ist ihre Sache. Bleibt die Aus¬ einandersetzung resultatlos, so kann auch der Staat keine Abhülfe schaffen. Denn wo sollten alle die Beamten herkommen, um eingreifende Enquöten über die Vermögenslage der Fabrikanten anzustellen. Da würde es zu Steuer- Gttiizboten l. 1571. ,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/343>, abgerufen am 25.12.2024.