Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.gethan. In der That, das ist ein Volksstück, und zwar ein echt Berliner gethan. In der That, das ist ein Volksstück, und zwar ein echt Berliner <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130674"/> <p xml:id="ID_66" prev="#ID_65" next="#ID_67"> gethan. In der That, das ist ein Volksstück, und zwar ein echt Berliner<lb/> Volksstück, nicht gerade neu in den Motiven, aber recht hübsch, stellenweise<lb/> sogar originell durchgeführt und, was das Beste ist, dem da draußen im<lb/> Reich so sehr verkannten gemüthlichen Charakter des Berliner Volksthums<lb/> getreulich abgelauscht. Die alte Geschichte, daß ein schwacher Vater für sei¬<lb/> nen ung-rathenen Sohn eine wahre Affenliebe hegt und dafür zu Grunde<lb/> gerichtet wird, bildet den Grundstock der Fabel; um ihn herum reiht sich in<lb/> bunter Abwechslung eine reiche Fülle ernster und komischer Scenen. Herr<lb/> Schneider ist ein reichgewordener Schustermeister; seinen Sohn Leopold<lb/> hat er studiren lassen! Dieser hat's, zu des Vaters unbändiger Freude,<lb/> bereits bis zum Referendarius gebracht, daneben auch zu einer gewal¬<lb/> tigen Masse Schulden, die indeß der pflichtbewußte Vater pünktlich bezahlt.<lb/> Daß Klärchen, Herrn Schneider's Tochter, sich mit einem wackern Gesellen<lb/> aus der väterlichen Werkstätte verlobt, ist natürlich für Vater und Sohn ein<lb/> wahrer Skandal, sie wird aus dem Hause verstoßen. Aber das Schicksal<lb/> schreitet schnell. Der „Krach" hat das Vermögen des Alten ruinirt, Leopold<lb/> kann sich vor Schulden nicht retten, er fälscht Wechsel, sucht eine reiche Erbin<lb/> zu entführen, um deren Vater zu bestehlen, und flüchtet schließlich vor der<lb/> Kriminaljustiz nach Amerika, während der Alte ein Dachkämmerchen bezieht,<lb/> um von der Flickschusterei zu leben. Aber eine Freundin seiner Tochter ent¬<lb/> deckt ihn in dem Versteck; nun wird er natürlich in das Haus des noch immer<lb/> zürnenden Schwiegersohns hineingeschmuggelt und es erfolgt die Versöhnung,<lb/> während man erfährt, daß Leopold in der Neuen Welt zum tüchtigen Kauf¬<lb/> mann geworden ist. Man sieht, der Gang der Handlung ist einfach, durch¬<lb/> aus ungekünstelt. Dabei sind die handelnden Personen durchweg lebenswahre<lb/> Gestalten, unmittelbar dem Berliner Leben der Gegenwart entnommen. Die<lb/> Verwicklungen lösen sich auf die natürlichste Weise. So hat der Schwieger¬<lb/> sohn, als seine Braut verstoßen wurde, geschworen, daß Herr Schneider in<lb/> seinem Hause nicht eher Aufnahme finden solle, als bis er vor ihm auf den<lb/> Knieen gelegen — eine Zumuthung, die der starrköpfige Mann stets zurück¬<lb/> weisen würde. Die Idee, die Lösung dadurch herbeizuführen, daß der Alte<lb/> dem Schwiegersohn ein paar Stiefeln anmißt, ist an sich offenbar der Gefahr<lb/> der Lächerlichkeit ausgesetzt. Hier aber hat der Dichter verstanden, sie durchaus<lb/> ungesucht aus der Situation heraus zu entwickeln. Noch eine andere bedenk¬<lb/> liche Klippe hat er glücklich zu umsegeln gewußt. In der echten Berliner<lb/> Posse ist es hergebracht, hie und da eine Dosis Sentimentalität beizumischen.<lb/> Nicht immer ist das mit Glück geschehen. Im vorliegenden Stücke liegt die<lb/> Gefahr doppelt nahe, denn die Seene in der Dachkammer, das erste Zusammen¬<lb/> treffen des Alten mit seinen Enkeln, tragen an sich des Sentimentalen eine<lb/> große Fülle in sich; aber dies Element wird, nicht etwa durch -frivole Ein-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
gethan. In der That, das ist ein Volksstück, und zwar ein echt Berliner
Volksstück, nicht gerade neu in den Motiven, aber recht hübsch, stellenweise
sogar originell durchgeführt und, was das Beste ist, dem da draußen im
Reich so sehr verkannten gemüthlichen Charakter des Berliner Volksthums
getreulich abgelauscht. Die alte Geschichte, daß ein schwacher Vater für sei¬
nen ung-rathenen Sohn eine wahre Affenliebe hegt und dafür zu Grunde
gerichtet wird, bildet den Grundstock der Fabel; um ihn herum reiht sich in
bunter Abwechslung eine reiche Fülle ernster und komischer Scenen. Herr
Schneider ist ein reichgewordener Schustermeister; seinen Sohn Leopold
hat er studiren lassen! Dieser hat's, zu des Vaters unbändiger Freude,
bereits bis zum Referendarius gebracht, daneben auch zu einer gewal¬
tigen Masse Schulden, die indeß der pflichtbewußte Vater pünktlich bezahlt.
Daß Klärchen, Herrn Schneider's Tochter, sich mit einem wackern Gesellen
aus der väterlichen Werkstätte verlobt, ist natürlich für Vater und Sohn ein
wahrer Skandal, sie wird aus dem Hause verstoßen. Aber das Schicksal
schreitet schnell. Der „Krach" hat das Vermögen des Alten ruinirt, Leopold
kann sich vor Schulden nicht retten, er fälscht Wechsel, sucht eine reiche Erbin
zu entführen, um deren Vater zu bestehlen, und flüchtet schließlich vor der
Kriminaljustiz nach Amerika, während der Alte ein Dachkämmerchen bezieht,
um von der Flickschusterei zu leben. Aber eine Freundin seiner Tochter ent¬
deckt ihn in dem Versteck; nun wird er natürlich in das Haus des noch immer
zürnenden Schwiegersohns hineingeschmuggelt und es erfolgt die Versöhnung,
während man erfährt, daß Leopold in der Neuen Welt zum tüchtigen Kauf¬
mann geworden ist. Man sieht, der Gang der Handlung ist einfach, durch¬
aus ungekünstelt. Dabei sind die handelnden Personen durchweg lebenswahre
Gestalten, unmittelbar dem Berliner Leben der Gegenwart entnommen. Die
Verwicklungen lösen sich auf die natürlichste Weise. So hat der Schwieger¬
sohn, als seine Braut verstoßen wurde, geschworen, daß Herr Schneider in
seinem Hause nicht eher Aufnahme finden solle, als bis er vor ihm auf den
Knieen gelegen — eine Zumuthung, die der starrköpfige Mann stets zurück¬
weisen würde. Die Idee, die Lösung dadurch herbeizuführen, daß der Alte
dem Schwiegersohn ein paar Stiefeln anmißt, ist an sich offenbar der Gefahr
der Lächerlichkeit ausgesetzt. Hier aber hat der Dichter verstanden, sie durchaus
ungesucht aus der Situation heraus zu entwickeln. Noch eine andere bedenk¬
liche Klippe hat er glücklich zu umsegeln gewußt. In der echten Berliner
Posse ist es hergebracht, hie und da eine Dosis Sentimentalität beizumischen.
Nicht immer ist das mit Glück geschehen. Im vorliegenden Stücke liegt die
Gefahr doppelt nahe, denn die Seene in der Dachkammer, das erste Zusammen¬
treffen des Alten mit seinen Enkeln, tragen an sich des Sentimentalen eine
große Fülle in sich; aber dies Element wird, nicht etwa durch -frivole Ein-
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