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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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mäßigen Erben konnte um so weniger maßgebend für ihre Entschließungen
sein, da ja seine Kinderlosigkeit den Uebergang der Regierung aus die or¬
thodox constitutionelle Linie in sichere Aussicht stellte.

Die Orleanisten der Nationalversammlung waren keineswegs besonders
liberal. Vor der Demokratie hatten sie vielleicht noch größere Furcht, als
die Legitimisten, die in gewissen Gegenden mit Unterstützung der Geistlichkeit
einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Massen der ländlichen Bevölkerung
ausübten und aus diesem Grunde in Bezug auf Decentralisation und Selbst¬
verwaltung im Ganzen freisinnigeren Ansichten huldigten, als die Orleanisten.
Ueber die Nothwendigkeit einer streng regressiven Politik dachten die Orlea¬
nisten, wie sehr sie sich auch bemühten, ihren Liberalismus im Gegensatz zu
Legitimisten und Imperialisten in ein möglichst helles Licht zu stellen, doch
grade ebenso, wie die übrigen Fractionen der Mehrheit. Dagegen waren sie
aufrichtige Gegner des Absolutismus und thaten sich auf ihren rechtgläubigen
Parlamentarismus etwas zu Gute. Ihr Standtpunkt war im Ganzen der
der alten Doctrinäre, nur daß sie, darin der allgemein unter den höheren
Classen herrschenden Strömung folgend, eine kirchliche Gesinnung zur Schau
trugen, deren Aufrichtigkeit bei vielen von ihnen zweifelhaft war, und die dem
alten stark voltairisch gefärbten Orleanismus jedenfalls sehr fern gelegen hatte.
In einer Zeit, wo die katholische kirchliche Gesinnung für eines der Unter¬
scheidungszeichen des Conservativen vom Radikalen gilt, konnten die Orlea¬
nisten, denen die Söhne und Enkel des Bürgerkönigs in der Beziehung ein
vortreffliches Vorbild gaben, nicht umhin, sich als ergebene Söhne der Kirche,
als unterwürfige Verehrer des Syllabus und des Unfehlbarkeitsdogmas zu
bekennen. Dazu nöthigte außerdem auch die Rücksicht auf die legitimistischen
Mitbewerber, denen man, wie in andern Dingen, so auch in der Kirchlichkeit
Concurrenz machen mußte, womit sich ein gelegentliches Coquettiren mit
liberalen, gallicanischen Grundsätzen, wenn es etwa galt, im linken Centrum
für den Orleanismus Propaganda zu machen, sehr wohl vertrug.

Den Kernpunkt des orleanistischen Programms bildete aber das parlamen¬
tarische System und die Fahnenfrage. Mochte der Verzicht der Prinzen dem
legitimen Prätendenten gegenüber auch unbedingt sein; bis zur Verleugnung des
constitutionellen Systems und der Tricolore konnten ihre Anhänger ihnen
nicht folgen; das verbot ihnen einfach der Selbsterhaltungstrieb. Gelang
nämlich die Restauration, so ließ sich mit Sicherheit voraussehen, daß die
rechtgläubigen Legitimisten den Anspruch erheben würden, daß der in den
Zeiten des Erils bewährten Treue in den Tagen des Glücks auch ihr Lohn
zu Theil werde, mit andern Worten, daß ihren Händen und nur ihren Hän¬
den, der Roy die Leitung der Verwaltung anvertraue. Um sich also in der
Monarchie einen Antheil an der Gewalt zu sichern, mußten die Orleanisten


mäßigen Erben konnte um so weniger maßgebend für ihre Entschließungen
sein, da ja seine Kinderlosigkeit den Uebergang der Regierung aus die or¬
thodox constitutionelle Linie in sichere Aussicht stellte.

Die Orleanisten der Nationalversammlung waren keineswegs besonders
liberal. Vor der Demokratie hatten sie vielleicht noch größere Furcht, als
die Legitimisten, die in gewissen Gegenden mit Unterstützung der Geistlichkeit
einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Massen der ländlichen Bevölkerung
ausübten und aus diesem Grunde in Bezug auf Decentralisation und Selbst¬
verwaltung im Ganzen freisinnigeren Ansichten huldigten, als die Orleanisten.
Ueber die Nothwendigkeit einer streng regressiven Politik dachten die Orlea¬
nisten, wie sehr sie sich auch bemühten, ihren Liberalismus im Gegensatz zu
Legitimisten und Imperialisten in ein möglichst helles Licht zu stellen, doch
grade ebenso, wie die übrigen Fractionen der Mehrheit. Dagegen waren sie
aufrichtige Gegner des Absolutismus und thaten sich auf ihren rechtgläubigen
Parlamentarismus etwas zu Gute. Ihr Standtpunkt war im Ganzen der
der alten Doctrinäre, nur daß sie, darin der allgemein unter den höheren
Classen herrschenden Strömung folgend, eine kirchliche Gesinnung zur Schau
trugen, deren Aufrichtigkeit bei vielen von ihnen zweifelhaft war, und die dem
alten stark voltairisch gefärbten Orleanismus jedenfalls sehr fern gelegen hatte.
In einer Zeit, wo die katholische kirchliche Gesinnung für eines der Unter¬
scheidungszeichen des Conservativen vom Radikalen gilt, konnten die Orlea¬
nisten, denen die Söhne und Enkel des Bürgerkönigs in der Beziehung ein
vortreffliches Vorbild gaben, nicht umhin, sich als ergebene Söhne der Kirche,
als unterwürfige Verehrer des Syllabus und des Unfehlbarkeitsdogmas zu
bekennen. Dazu nöthigte außerdem auch die Rücksicht auf die legitimistischen
Mitbewerber, denen man, wie in andern Dingen, so auch in der Kirchlichkeit
Concurrenz machen mußte, womit sich ein gelegentliches Coquettiren mit
liberalen, gallicanischen Grundsätzen, wenn es etwa galt, im linken Centrum
für den Orleanismus Propaganda zu machen, sehr wohl vertrug.

Den Kernpunkt des orleanistischen Programms bildete aber das parlamen¬
tarische System und die Fahnenfrage. Mochte der Verzicht der Prinzen dem
legitimen Prätendenten gegenüber auch unbedingt sein; bis zur Verleugnung des
constitutionellen Systems und der Tricolore konnten ihre Anhänger ihnen
nicht folgen; das verbot ihnen einfach der Selbsterhaltungstrieb. Gelang
nämlich die Restauration, so ließ sich mit Sicherheit voraussehen, daß die
rechtgläubigen Legitimisten den Anspruch erheben würden, daß der in den
Zeiten des Erils bewährten Treue in den Tagen des Glücks auch ihr Lohn
zu Theil werde, mit andern Worten, daß ihren Händen und nur ihren Hän¬
den, der Roy die Leitung der Verwaltung anvertraue. Um sich also in der
Monarchie einen Antheil an der Gewalt zu sichern, mußten die Orleanisten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/297>, abgerufen am 25.08.2024.