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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Das auf die Spitze getriebene und deshalb zu einem ebenso geistlosen wie
unfruchtbaren Formalismus entartete parlamentarische System, unter dessen
Herrschaft oft genug die ganze Thätigkeit selbst tüchtiger Minister sich in der
unerquicklichen Arbeit erschöpfte, aus den verschiedenen Gruppen der Kammer
eine Majorität zusammenzuschmelzen oder zusammenzuleimen, ist in der orleani-
stischen Monarchie zur höchsten Ausbildung gekommen und deshalb für dieselbe
charakteristisch. Um indessen das Wesen dieser Monarchie vollständig zu fassen,
hat man noch einen anderen Punkt in Betracht zu ziehen. Welches war die
sociale Grundlage des parlamentarischen Systems unter der Julidynastie?
Es ist dies eine Frage, deren Erörterung in den theoretischen Lehrgebäuden
der älteren Doctrinäre des constitutionellen Systems eine sehr untergeordnete
Stelle einnimmt, indem deren Aufmerksamkeit fast ausschließlich dem Mecha¬
nismus des constitutionellen Räderwerks zugewendet war, die aber nichts¬
destoweniger für das Urtheil über eine Verfassung und deren Wirksamkeit
von entscheidender Bedeutung ist.

In Frankreich war die gesellschaftliche Schicht, welche sich der constitutio¬
nellen Maschinerie bemächtigt hatte, das höhere besitzende Bürgerthum. Das
parlamentarische Regime deckte sich in Frankreich thatsächlich mit der Herrschaft
des reichen Mittelstandes, der durch einen hohen Wahlcensus sich scharf nach
Unten abschloß und nach Oben hin durch Aufhebung der Erblichkeit der
Pairswürde, zu der der große Minister Casimir Perier nur mit schwerem
Herzen seine Zustimmung gegeben hatte, auch den letzten Krystallisations¬
punkt, um den die Elemente einer politischen Aristokratie sich sammeln konn¬
ten, zerstörte. Den Geburtsprivilegien gegenüber war das Bürgerthum, das
ganz auf den Privilegien von 1789 fußte, so radikal als möglich. Aber mit
derselben Leidenschaft, mit der man gegen jedes aristokratische Vorrecht an¬
kämpfte, mit der man diejenige Institution zertrümmerte, die, wenn man sie
hätte bestehen lassen, nothwendiger Weise die Bildung eines hohen politischen
Adels zur Folge gehabt haben würde, mit derselben Leidenschaft setzte man
dem Vordringen des vierten Standes Widerstand entgegen. Während die
parlamentarischen Vertreter des Bürgerthums sich in Fractionen spalteten,
die sich, obwohl sie in ihren politischen Grundsätzen im Wesentlichen auf
gleichem Boden standen, in der Kammer unablässig die Ministersessel streitig
machten, entwickelte sich im Lande der Gegensatz der Klassen zu immer größerer
Schärfe. Die Ueberreste der alten Geburtsaristokratie, von glühendem Haß
gegen das Bürgerthum erfüllt, sammelten sich unter der Fahne des Legiti¬
mismus, ohne Bedenken jede Partei als Verbündete willkommen beißend, mit
der sie sich in der leidenschaftlichen Abneigung gegen die herrschende Klasse
und der aus ihr hervorgegangenen Regierung begegnete. Die Demokratie
säumte nicht, aus dieser Stimmung der adeligen Kreise Vortheil zu ziehn.


Das auf die Spitze getriebene und deshalb zu einem ebenso geistlosen wie
unfruchtbaren Formalismus entartete parlamentarische System, unter dessen
Herrschaft oft genug die ganze Thätigkeit selbst tüchtiger Minister sich in der
unerquicklichen Arbeit erschöpfte, aus den verschiedenen Gruppen der Kammer
eine Majorität zusammenzuschmelzen oder zusammenzuleimen, ist in der orleani-
stischen Monarchie zur höchsten Ausbildung gekommen und deshalb für dieselbe
charakteristisch. Um indessen das Wesen dieser Monarchie vollständig zu fassen,
hat man noch einen anderen Punkt in Betracht zu ziehen. Welches war die
sociale Grundlage des parlamentarischen Systems unter der Julidynastie?
Es ist dies eine Frage, deren Erörterung in den theoretischen Lehrgebäuden
der älteren Doctrinäre des constitutionellen Systems eine sehr untergeordnete
Stelle einnimmt, indem deren Aufmerksamkeit fast ausschließlich dem Mecha¬
nismus des constitutionellen Räderwerks zugewendet war, die aber nichts¬
destoweniger für das Urtheil über eine Verfassung und deren Wirksamkeit
von entscheidender Bedeutung ist.

In Frankreich war die gesellschaftliche Schicht, welche sich der constitutio¬
nellen Maschinerie bemächtigt hatte, das höhere besitzende Bürgerthum. Das
parlamentarische Regime deckte sich in Frankreich thatsächlich mit der Herrschaft
des reichen Mittelstandes, der durch einen hohen Wahlcensus sich scharf nach
Unten abschloß und nach Oben hin durch Aufhebung der Erblichkeit der
Pairswürde, zu der der große Minister Casimir Perier nur mit schwerem
Herzen seine Zustimmung gegeben hatte, auch den letzten Krystallisations¬
punkt, um den die Elemente einer politischen Aristokratie sich sammeln konn¬
ten, zerstörte. Den Geburtsprivilegien gegenüber war das Bürgerthum, das
ganz auf den Privilegien von 1789 fußte, so radikal als möglich. Aber mit
derselben Leidenschaft, mit der man gegen jedes aristokratische Vorrecht an¬
kämpfte, mit der man diejenige Institution zertrümmerte, die, wenn man sie
hätte bestehen lassen, nothwendiger Weise die Bildung eines hohen politischen
Adels zur Folge gehabt haben würde, mit derselben Leidenschaft setzte man
dem Vordringen des vierten Standes Widerstand entgegen. Während die
parlamentarischen Vertreter des Bürgerthums sich in Fractionen spalteten,
die sich, obwohl sie in ihren politischen Grundsätzen im Wesentlichen auf
gleichem Boden standen, in der Kammer unablässig die Ministersessel streitig
machten, entwickelte sich im Lande der Gegensatz der Klassen zu immer größerer
Schärfe. Die Ueberreste der alten Geburtsaristokratie, von glühendem Haß
gegen das Bürgerthum erfüllt, sammelten sich unter der Fahne des Legiti¬
mismus, ohne Bedenken jede Partei als Verbündete willkommen beißend, mit
der sie sich in der leidenschaftlichen Abneigung gegen die herrschende Klasse
und der aus ihr hervorgegangenen Regierung begegnete. Die Demokratie
säumte nicht, aus dieser Stimmung der adeligen Kreise Vortheil zu ziehn.


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[0290] Das auf die Spitze getriebene und deshalb zu einem ebenso geistlosen wie unfruchtbaren Formalismus entartete parlamentarische System, unter dessen Herrschaft oft genug die ganze Thätigkeit selbst tüchtiger Minister sich in der unerquicklichen Arbeit erschöpfte, aus den verschiedenen Gruppen der Kammer eine Majorität zusammenzuschmelzen oder zusammenzuleimen, ist in der orleani- stischen Monarchie zur höchsten Ausbildung gekommen und deshalb für dieselbe charakteristisch. Um indessen das Wesen dieser Monarchie vollständig zu fassen, hat man noch einen anderen Punkt in Betracht zu ziehen. Welches war die sociale Grundlage des parlamentarischen Systems unter der Julidynastie? Es ist dies eine Frage, deren Erörterung in den theoretischen Lehrgebäuden der älteren Doctrinäre des constitutionellen Systems eine sehr untergeordnete Stelle einnimmt, indem deren Aufmerksamkeit fast ausschließlich dem Mecha¬ nismus des constitutionellen Räderwerks zugewendet war, die aber nichts¬ destoweniger für das Urtheil über eine Verfassung und deren Wirksamkeit von entscheidender Bedeutung ist. In Frankreich war die gesellschaftliche Schicht, welche sich der constitutio¬ nellen Maschinerie bemächtigt hatte, das höhere besitzende Bürgerthum. Das parlamentarische Regime deckte sich in Frankreich thatsächlich mit der Herrschaft des reichen Mittelstandes, der durch einen hohen Wahlcensus sich scharf nach Unten abschloß und nach Oben hin durch Aufhebung der Erblichkeit der Pairswürde, zu der der große Minister Casimir Perier nur mit schwerem Herzen seine Zustimmung gegeben hatte, auch den letzten Krystallisations¬ punkt, um den die Elemente einer politischen Aristokratie sich sammeln konn¬ ten, zerstörte. Den Geburtsprivilegien gegenüber war das Bürgerthum, das ganz auf den Privilegien von 1789 fußte, so radikal als möglich. Aber mit derselben Leidenschaft, mit der man gegen jedes aristokratische Vorrecht an¬ kämpfte, mit der man diejenige Institution zertrümmerte, die, wenn man sie hätte bestehen lassen, nothwendiger Weise die Bildung eines hohen politischen Adels zur Folge gehabt haben würde, mit derselben Leidenschaft setzte man dem Vordringen des vierten Standes Widerstand entgegen. Während die parlamentarischen Vertreter des Bürgerthums sich in Fractionen spalteten, die sich, obwohl sie in ihren politischen Grundsätzen im Wesentlichen auf gleichem Boden standen, in der Kammer unablässig die Ministersessel streitig machten, entwickelte sich im Lande der Gegensatz der Klassen zu immer größerer Schärfe. Die Ueberreste der alten Geburtsaristokratie, von glühendem Haß gegen das Bürgerthum erfüllt, sammelten sich unter der Fahne des Legiti¬ mismus, ohne Bedenken jede Partei als Verbündete willkommen beißend, mit der sie sich in der leidenschaftlichen Abneigung gegen die herrschende Klasse und der aus ihr hervorgegangenen Regierung begegnete. Die Demokratie säumte nicht, aus dieser Stimmung der adeligen Kreise Vortheil zu ziehn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/290>, abgerufen am 25.08.2024.