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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Schiller und Goethe durften wir nur eine ganz geringe Anzahl Gedichte lesen
und es wurde uns auf die Seele gebunden, uns stets von der Lectüre dieser
gefährlichen Schriftsteller fern zu halten. -- Aus der Geistesdürre und Ge-
schmacksrohheit, wozu die heranwachsenden Mädchen auf diese Art verdammt
werden, erklärt es sich, daß die meisten, nachdem sie die Klostermauern ver¬
lassen, nach den erbärmlichsten Leihbibliothek-Romanen, französischen vor allen,
greisen. Dabei bleiben sie aber ergebene Töchter ihrer Kirche, gehen fleißig
zur Beichte und halten jeden Zweifel an der allein seligmachenden Kraft der
römisch-katholischen Kirche, sowie an der Heiligkeit ihrer Priester sür eine
Todsünde.

Nicht die Veredelung von Herz und Geist, sondern einzig die unbedingte
Hingebung an die "Mutter Kirche", die Verhütung jeder Prüfung dessen,
was man uns als Religion bot, waren das Ziel dieser Erziehung. Deshalb
prägte man uns Kindern schon frühe ein, keinen Protestanten zu heirathen,
und malte uns das Verderben aus, dem wir dadurch uns und unsere Kinder
aussetzen würden! Deshalb lehrte man uns, daß Toleranz gegen andere Con-
fessionen sündhafter Jndifferentismus sei. Deshalb warnte man uns so sehr
vor unserer klassischen Literatur und vor dem Besuche des Theaters. Jährlich
ein Mal ließ man uns die Exercitien machen, die Retraite, wie wir sie fran¬
zösisch hießen. Diese geistlichen Uebungen dauerten drei Tage und bestanden
in Schweigen, Betrachtungen, Beten, Fasten; Beichten und Communiciren.
Die geistlichen Vorträge und Vorlesungen wurden von Klosterfrauen oder
von Jesuiten, die zu diesem Behufe kamen, gehalten. Schilderungen des
Himmels und der Hölle und Wundergeschichten bildeten den Hauptinhalt der¬
selben. Heute noch überkommt mich Ekel, wenn ich daran denke, was da
unsern gläubigen Herzen zugemuthet und als Religion unterschoben wurde.
Wunder- und Teufels-Geschichten der widerlichsten Art waren unsere Geistes-
nahrung. Aus ästhetischen Rücksichten nehme ich Anstand, hier Beispiele da¬
von zu bringen. Aber eines will ich zur Kennzeichnung anführen: Um den
Versuchungen des Teufels zu widerstehen, dürften wir nur den Daumen
zwischen den Zeige- und Mittelfinger stecken, leitete man uns an; wahrschein¬
lich weil so die Finger eine Kreuzform bilden. -- Der Herz-Jesu-Cultus, der
in Deutschland erst durch die Wallfahrts-Saturnalien der Franzosen allge¬
mein bekannt wurde, und die Verehrung des heiligen Joseph, dem in unserem
Josephs-Büchlein (vom Jesuiten P. de Chazournes) ebenfalls "unbefleckte Ge¬
burt" zugeschrieben war, wurde von uns mit der ganzen sinnlich-übersinnlichen
Schwärmerei betrieben, wozu unsere aus Frankreich bezogenen Gebet- und
Erbauungsbücher die Anleitung gaben.

Die meisten meiner ehemaligen Instituts-Gefährtinnen haben die Ein¬
drücke der Klostererziehung nicht überwinden können. Sie sind, zu was sie


Schiller und Goethe durften wir nur eine ganz geringe Anzahl Gedichte lesen
und es wurde uns auf die Seele gebunden, uns stets von der Lectüre dieser
gefährlichen Schriftsteller fern zu halten. — Aus der Geistesdürre und Ge-
schmacksrohheit, wozu die heranwachsenden Mädchen auf diese Art verdammt
werden, erklärt es sich, daß die meisten, nachdem sie die Klostermauern ver¬
lassen, nach den erbärmlichsten Leihbibliothek-Romanen, französischen vor allen,
greisen. Dabei bleiben sie aber ergebene Töchter ihrer Kirche, gehen fleißig
zur Beichte und halten jeden Zweifel an der allein seligmachenden Kraft der
römisch-katholischen Kirche, sowie an der Heiligkeit ihrer Priester sür eine
Todsünde.

Nicht die Veredelung von Herz und Geist, sondern einzig die unbedingte
Hingebung an die „Mutter Kirche", die Verhütung jeder Prüfung dessen,
was man uns als Religion bot, waren das Ziel dieser Erziehung. Deshalb
prägte man uns Kindern schon frühe ein, keinen Protestanten zu heirathen,
und malte uns das Verderben aus, dem wir dadurch uns und unsere Kinder
aussetzen würden! Deshalb lehrte man uns, daß Toleranz gegen andere Con-
fessionen sündhafter Jndifferentismus sei. Deshalb warnte man uns so sehr
vor unserer klassischen Literatur und vor dem Besuche des Theaters. Jährlich
ein Mal ließ man uns die Exercitien machen, die Retraite, wie wir sie fran¬
zösisch hießen. Diese geistlichen Uebungen dauerten drei Tage und bestanden
in Schweigen, Betrachtungen, Beten, Fasten; Beichten und Communiciren.
Die geistlichen Vorträge und Vorlesungen wurden von Klosterfrauen oder
von Jesuiten, die zu diesem Behufe kamen, gehalten. Schilderungen des
Himmels und der Hölle und Wundergeschichten bildeten den Hauptinhalt der¬
selben. Heute noch überkommt mich Ekel, wenn ich daran denke, was da
unsern gläubigen Herzen zugemuthet und als Religion unterschoben wurde.
Wunder- und Teufels-Geschichten der widerlichsten Art waren unsere Geistes-
nahrung. Aus ästhetischen Rücksichten nehme ich Anstand, hier Beispiele da¬
von zu bringen. Aber eines will ich zur Kennzeichnung anführen: Um den
Versuchungen des Teufels zu widerstehen, dürften wir nur den Daumen
zwischen den Zeige- und Mittelfinger stecken, leitete man uns an; wahrschein¬
lich weil so die Finger eine Kreuzform bilden. — Der Herz-Jesu-Cultus, der
in Deutschland erst durch die Wallfahrts-Saturnalien der Franzosen allge¬
mein bekannt wurde, und die Verehrung des heiligen Joseph, dem in unserem
Josephs-Büchlein (vom Jesuiten P. de Chazournes) ebenfalls „unbefleckte Ge¬
burt" zugeschrieben war, wurde von uns mit der ganzen sinnlich-übersinnlichen
Schwärmerei betrieben, wozu unsere aus Frankreich bezogenen Gebet- und
Erbauungsbücher die Anleitung gaben.

Die meisten meiner ehemaligen Instituts-Gefährtinnen haben die Ein¬
drücke der Klostererziehung nicht überwinden können. Sie sind, zu was sie


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[0241] Schiller und Goethe durften wir nur eine ganz geringe Anzahl Gedichte lesen und es wurde uns auf die Seele gebunden, uns stets von der Lectüre dieser gefährlichen Schriftsteller fern zu halten. — Aus der Geistesdürre und Ge- schmacksrohheit, wozu die heranwachsenden Mädchen auf diese Art verdammt werden, erklärt es sich, daß die meisten, nachdem sie die Klostermauern ver¬ lassen, nach den erbärmlichsten Leihbibliothek-Romanen, französischen vor allen, greisen. Dabei bleiben sie aber ergebene Töchter ihrer Kirche, gehen fleißig zur Beichte und halten jeden Zweifel an der allein seligmachenden Kraft der römisch-katholischen Kirche, sowie an der Heiligkeit ihrer Priester sür eine Todsünde. Nicht die Veredelung von Herz und Geist, sondern einzig die unbedingte Hingebung an die „Mutter Kirche", die Verhütung jeder Prüfung dessen, was man uns als Religion bot, waren das Ziel dieser Erziehung. Deshalb prägte man uns Kindern schon frühe ein, keinen Protestanten zu heirathen, und malte uns das Verderben aus, dem wir dadurch uns und unsere Kinder aussetzen würden! Deshalb lehrte man uns, daß Toleranz gegen andere Con- fessionen sündhafter Jndifferentismus sei. Deshalb warnte man uns so sehr vor unserer klassischen Literatur und vor dem Besuche des Theaters. Jährlich ein Mal ließ man uns die Exercitien machen, die Retraite, wie wir sie fran¬ zösisch hießen. Diese geistlichen Uebungen dauerten drei Tage und bestanden in Schweigen, Betrachtungen, Beten, Fasten; Beichten und Communiciren. Die geistlichen Vorträge und Vorlesungen wurden von Klosterfrauen oder von Jesuiten, die zu diesem Behufe kamen, gehalten. Schilderungen des Himmels und der Hölle und Wundergeschichten bildeten den Hauptinhalt der¬ selben. Heute noch überkommt mich Ekel, wenn ich daran denke, was da unsern gläubigen Herzen zugemuthet und als Religion unterschoben wurde. Wunder- und Teufels-Geschichten der widerlichsten Art waren unsere Geistes- nahrung. Aus ästhetischen Rücksichten nehme ich Anstand, hier Beispiele da¬ von zu bringen. Aber eines will ich zur Kennzeichnung anführen: Um den Versuchungen des Teufels zu widerstehen, dürften wir nur den Daumen zwischen den Zeige- und Mittelfinger stecken, leitete man uns an; wahrschein¬ lich weil so die Finger eine Kreuzform bilden. — Der Herz-Jesu-Cultus, der in Deutschland erst durch die Wallfahrts-Saturnalien der Franzosen allge¬ mein bekannt wurde, und die Verehrung des heiligen Joseph, dem in unserem Josephs-Büchlein (vom Jesuiten P. de Chazournes) ebenfalls „unbefleckte Ge¬ burt" zugeschrieben war, wurde von uns mit der ganzen sinnlich-übersinnlichen Schwärmerei betrieben, wozu unsere aus Frankreich bezogenen Gebet- und Erbauungsbücher die Anleitung gaben. Die meisten meiner ehemaligen Instituts-Gefährtinnen haben die Ein¬ drücke der Klostererziehung nicht überwinden können. Sie sind, zu was sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/241>, abgerufen am 25.12.2024.