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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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"die verstoßenen Götter ihrer Väter -- aus all diesem setzt sich ein wirklicher
Charakter zusammen.

Hätte es Wagner doch nur gefallen, seinen Hauptpersonen ebensoviel
Lebensblut mitzutheilen. Aber hier, wo es darauf ankäme, wirkliche Men¬
schen zu zeichnen, begnügt er sich mit nebelhaften, kraftlosen Schattengestalten.
Wie diese Erscheinung zu erklären? Vielleicht, wie oben schon angedeutet, als
ein angebornes oder angebildetes Mißverhältniß zwischen der Fassungs- und
der Darstellungskraft des Dichters. Jedenfalls kann unter all seinen Helden
und Heldinnen kaum eine einzige auf den Titel einer wirklichen Persönlich¬
keit Anspruch machen. Allenfalls Elsa. Sie ist ein einfaches, unschuldiges
Wesen, das sich kaum anders benehmen kann, als wie sie thut. Das Visio¬
näre, welches ihr wie allen Frauen Wagner's anhaftet, ist durch ihre aufre¬
genden Schicksale einigermaßen gerechtfertigt. Am meisten aber gewinnt sie
durch den eigenthümlichen naiven Ton ihrer Sprache. Einzelne derartige
Züge hat Wagner unmöglich ergrübeln und zusammensetzen können, sie
sind ihm aus wahrer, innerer Anschauung zugeflossen. So namentlich ihr
kindlich muthiger Ton der Ortrud gegenüber:


"Du Lästern! Ruchlose Frau!
Hör, ob ich Antwort mir getrau! u. f. w."

Wiederum ein Zeichen echter Begabung des Dichters, aber, zu den
übrigen Hauptpersonen Wagner's gehalten, nicht viel mehr als eine Oase in
der Wüste. Da wir auf mehrere der andern Helden späterhin noch zu spre¬
chen kommen, so möge hier nur an dem Paare Tanhäuser und Elisabeth
gezeigt werden, wie der Reformator eigentlich charakterisier. Tanhäuser
ist durch und durch ein Mensch des Genusses. Bei Eröffnung der
Scene finden wir ihn zu den Füßen der Venus im Schlaf. Wie er
in diese Lage gekommen, das ist sehr bezeichnend für ihn. Er liebte die Elisabeth
und ward wieder geliebt. Da entzweite er sich mit den andern Sängern am
Hofe von Thüringen, muß die Wartburg verlassen, und nun -- geht er direkt
in den Hörselberg, um dort die versagte Liebe zu finden. Um jeden Preis
genießen, das ist sein Lebensprineip. Und dennoch sehen wir ihn dieses
Princip dreimal abschwören. Und trotz des Schwures sehen wir es ihn zwei¬
mal wieder aufsuchen. In ruhiger Stimmung zeigt er sich nie; außer seiner
Reue und seiner Leidenschaft erfahren wir nichts von ihm. Kurz, er ist --
um von allem Andern vorläufig abzusehn -- nur und ganz allein von dieser
einzigen Seite geschildert. Er ist nicht, er bedeutet. Er bedeutet die Genu߬
sucht, wie Lohengrin die edle männliche Kraft, und wie Tristan die ver¬
zehrende Liebe.

Zu dieser charakterlosen Einseitigkeit und Schwäche kommt zweitens, daß


"die verstoßenen Götter ihrer Väter — aus all diesem setzt sich ein wirklicher
Charakter zusammen.

Hätte es Wagner doch nur gefallen, seinen Hauptpersonen ebensoviel
Lebensblut mitzutheilen. Aber hier, wo es darauf ankäme, wirkliche Men¬
schen zu zeichnen, begnügt er sich mit nebelhaften, kraftlosen Schattengestalten.
Wie diese Erscheinung zu erklären? Vielleicht, wie oben schon angedeutet, als
ein angebornes oder angebildetes Mißverhältniß zwischen der Fassungs- und
der Darstellungskraft des Dichters. Jedenfalls kann unter all seinen Helden
und Heldinnen kaum eine einzige auf den Titel einer wirklichen Persönlich¬
keit Anspruch machen. Allenfalls Elsa. Sie ist ein einfaches, unschuldiges
Wesen, das sich kaum anders benehmen kann, als wie sie thut. Das Visio¬
näre, welches ihr wie allen Frauen Wagner's anhaftet, ist durch ihre aufre¬
genden Schicksale einigermaßen gerechtfertigt. Am meisten aber gewinnt sie
durch den eigenthümlichen naiven Ton ihrer Sprache. Einzelne derartige
Züge hat Wagner unmöglich ergrübeln und zusammensetzen können, sie
sind ihm aus wahrer, innerer Anschauung zugeflossen. So namentlich ihr
kindlich muthiger Ton der Ortrud gegenüber:


„Du Lästern! Ruchlose Frau!
Hör, ob ich Antwort mir getrau! u. f. w."

Wiederum ein Zeichen echter Begabung des Dichters, aber, zu den
übrigen Hauptpersonen Wagner's gehalten, nicht viel mehr als eine Oase in
der Wüste. Da wir auf mehrere der andern Helden späterhin noch zu spre¬
chen kommen, so möge hier nur an dem Paare Tanhäuser und Elisabeth
gezeigt werden, wie der Reformator eigentlich charakterisier. Tanhäuser
ist durch und durch ein Mensch des Genusses. Bei Eröffnung der
Scene finden wir ihn zu den Füßen der Venus im Schlaf. Wie er
in diese Lage gekommen, das ist sehr bezeichnend für ihn. Er liebte die Elisabeth
und ward wieder geliebt. Da entzweite er sich mit den andern Sängern am
Hofe von Thüringen, muß die Wartburg verlassen, und nun — geht er direkt
in den Hörselberg, um dort die versagte Liebe zu finden. Um jeden Preis
genießen, das ist sein Lebensprineip. Und dennoch sehen wir ihn dieses
Princip dreimal abschwören. Und trotz des Schwures sehen wir es ihn zwei¬
mal wieder aufsuchen. In ruhiger Stimmung zeigt er sich nie; außer seiner
Reue und seiner Leidenschaft erfahren wir nichts von ihm. Kurz, er ist —
um von allem Andern vorläufig abzusehn — nur und ganz allein von dieser
einzigen Seite geschildert. Er ist nicht, er bedeutet. Er bedeutet die Genu߬
sucht, wie Lohengrin die edle männliche Kraft, und wie Tristan die ver¬
zehrende Liebe.

Zu dieser charakterlosen Einseitigkeit und Schwäche kommt zweitens, daß


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[0230] "die verstoßenen Götter ihrer Väter — aus all diesem setzt sich ein wirklicher Charakter zusammen. Hätte es Wagner doch nur gefallen, seinen Hauptpersonen ebensoviel Lebensblut mitzutheilen. Aber hier, wo es darauf ankäme, wirkliche Men¬ schen zu zeichnen, begnügt er sich mit nebelhaften, kraftlosen Schattengestalten. Wie diese Erscheinung zu erklären? Vielleicht, wie oben schon angedeutet, als ein angebornes oder angebildetes Mißverhältniß zwischen der Fassungs- und der Darstellungskraft des Dichters. Jedenfalls kann unter all seinen Helden und Heldinnen kaum eine einzige auf den Titel einer wirklichen Persönlich¬ keit Anspruch machen. Allenfalls Elsa. Sie ist ein einfaches, unschuldiges Wesen, das sich kaum anders benehmen kann, als wie sie thut. Das Visio¬ näre, welches ihr wie allen Frauen Wagner's anhaftet, ist durch ihre aufre¬ genden Schicksale einigermaßen gerechtfertigt. Am meisten aber gewinnt sie durch den eigenthümlichen naiven Ton ihrer Sprache. Einzelne derartige Züge hat Wagner unmöglich ergrübeln und zusammensetzen können, sie sind ihm aus wahrer, innerer Anschauung zugeflossen. So namentlich ihr kindlich muthiger Ton der Ortrud gegenüber: „Du Lästern! Ruchlose Frau! Hör, ob ich Antwort mir getrau! u. f. w." Wiederum ein Zeichen echter Begabung des Dichters, aber, zu den übrigen Hauptpersonen Wagner's gehalten, nicht viel mehr als eine Oase in der Wüste. Da wir auf mehrere der andern Helden späterhin noch zu spre¬ chen kommen, so möge hier nur an dem Paare Tanhäuser und Elisabeth gezeigt werden, wie der Reformator eigentlich charakterisier. Tanhäuser ist durch und durch ein Mensch des Genusses. Bei Eröffnung der Scene finden wir ihn zu den Füßen der Venus im Schlaf. Wie er in diese Lage gekommen, das ist sehr bezeichnend für ihn. Er liebte die Elisabeth und ward wieder geliebt. Da entzweite er sich mit den andern Sängern am Hofe von Thüringen, muß die Wartburg verlassen, und nun — geht er direkt in den Hörselberg, um dort die versagte Liebe zu finden. Um jeden Preis genießen, das ist sein Lebensprineip. Und dennoch sehen wir ihn dieses Princip dreimal abschwören. Und trotz des Schwures sehen wir es ihn zwei¬ mal wieder aufsuchen. In ruhiger Stimmung zeigt er sich nie; außer seiner Reue und seiner Leidenschaft erfahren wir nichts von ihm. Kurz, er ist — um von allem Andern vorläufig abzusehn — nur und ganz allein von dieser einzigen Seite geschildert. Er ist nicht, er bedeutet. Er bedeutet die Genu߬ sucht, wie Lohengrin die edle männliche Kraft, und wie Tristan die ver¬ zehrende Liebe. Zu dieser charakterlosen Einseitigkeit und Schwäche kommt zweitens, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/230>, abgerufen am 25.12.2024.