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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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her in Europa falsch beurtheilt worden, dieser Irrthum sei jetzt durch Sardi¬
nien berichtigt und das wolle viel sagen für Jeden, der weniger an die bru¬
tale Gewalt glaube, als an die Macht der Ideen.

Wenn diese Verhandlungen in der Kammer auf kein bestimmtes Ergeb¬
niß hinausliefen, so siel aus denselben doch ein unerfreuliches Licht auf die Lage,
und die Schwäche der Vertheidigung Cavour's bezeugte hinlänglich, daß er
durch den Verlauf und das Ergebniß des Krieges und des Friedens keines¬
wegs so befriedigt sei, wie er scheinen wollte. Es kam jetzt Alles darauf an,
Italien so weit bei Stimmung zu erhalten, als erforderlich, um den nächsten
besten Vorwand zum Bruche mit Oesterreich und zur Anrufung der franzö¬
sischen Dankbarkeit ergreifen zu können; denn jede Verzögerung in der Aus¬
beutung der gegen Rußland geleisteten Dienste drohte die Theilnahme am
Krimkriege in die Perspective einer romantischen Vergangenheit zu rücken und
dem lebendigen Interesse des Tages zu entfremden. Nicht weniger drängte
die übermäßig gespannte Finanzlage Sardiniens auf eine rasche Entscheidung.
War es demnach eine Lebensbedingung für die Politik Cavour's, daß das Ver¬
trauen Italiens auf die nächste Zukunft um jeden Preis wach erhalten werde,
so hatte er vor Allem sich selbst auf der Höhe der Zuversicht zu behaupten,
von der herunter er bisher gesprochen und gehandelt. Und es gelang ihm
in der That, sich und Andere zu überreden, daß die italienische Sache durch
dem Krimkrieg und den Pariser Frieden um einen gewaltigen Schritt vor¬
wärts gebracht sei, und daß wahrscheinlich einer der nächsten Tage die Gelegen¬
heit herbeiführen werde, zum Ziel zu gelangen.

Dieses Ziel war freilich noch niemals offen und klar bezeichnet und
schwebte selbst vor dem geistigen Blicke Derer, die es verfolgten, nur als ein
Bild mit verschwommenen Umrissen, ohne andern festen Kern, als den wilden
Haß gegen Oesterreich, welcher der Politik Cavour's als Schwungrad diente.
Seine Absicht, die Oesterreicher aus Italien zu vertreiben, war öffentliches
Geheimniß, sein Gedanke, die Lombardei und Venetien dem sardinischen Staate
einzuverleiben, zwar nicht eingestanden, aber doch kaum weniger zweifelhaft
und weniger einmüthig gebilligt. Bezüglich der gegen die übrigen italienischen
Staaten einzunehmenden Stellung war man völlig im Unklaren und beob¬
achtete Cavour selbst die Zurückhaltung, welche die Lage der Dinge mit sich
brachte, in der auch der verwegenste Ehrgeiz sich selbst im Traume nicht bis
zu dem Gedanken versteigen konnte, den eine beispiellose Gunst des Glücks
einige Jahre später verwirklichte. Mochte Cavour seine Annexionsgedanken
von Lombardo-Venetien immerhin auch auf die Habsburgischen Herzogtümer
Toscana und Modena so wie auf Parma ausdehnen, die ja ihre Wiederauf¬
richtung nur dem österreichischen Einschreiten nach 1848 und ihren bisherigen
Bestand verdankten, und mochten sie selbst nach der Romagna begehrliche Blicke


her in Europa falsch beurtheilt worden, dieser Irrthum sei jetzt durch Sardi¬
nien berichtigt und das wolle viel sagen für Jeden, der weniger an die bru¬
tale Gewalt glaube, als an die Macht der Ideen.

Wenn diese Verhandlungen in der Kammer auf kein bestimmtes Ergeb¬
niß hinausliefen, so siel aus denselben doch ein unerfreuliches Licht auf die Lage,
und die Schwäche der Vertheidigung Cavour's bezeugte hinlänglich, daß er
durch den Verlauf und das Ergebniß des Krieges und des Friedens keines¬
wegs so befriedigt sei, wie er scheinen wollte. Es kam jetzt Alles darauf an,
Italien so weit bei Stimmung zu erhalten, als erforderlich, um den nächsten
besten Vorwand zum Bruche mit Oesterreich und zur Anrufung der franzö¬
sischen Dankbarkeit ergreifen zu können; denn jede Verzögerung in der Aus¬
beutung der gegen Rußland geleisteten Dienste drohte die Theilnahme am
Krimkriege in die Perspective einer romantischen Vergangenheit zu rücken und
dem lebendigen Interesse des Tages zu entfremden. Nicht weniger drängte
die übermäßig gespannte Finanzlage Sardiniens auf eine rasche Entscheidung.
War es demnach eine Lebensbedingung für die Politik Cavour's, daß das Ver¬
trauen Italiens auf die nächste Zukunft um jeden Preis wach erhalten werde,
so hatte er vor Allem sich selbst auf der Höhe der Zuversicht zu behaupten,
von der herunter er bisher gesprochen und gehandelt. Und es gelang ihm
in der That, sich und Andere zu überreden, daß die italienische Sache durch
dem Krimkrieg und den Pariser Frieden um einen gewaltigen Schritt vor¬
wärts gebracht sei, und daß wahrscheinlich einer der nächsten Tage die Gelegen¬
heit herbeiführen werde, zum Ziel zu gelangen.

Dieses Ziel war freilich noch niemals offen und klar bezeichnet und
schwebte selbst vor dem geistigen Blicke Derer, die es verfolgten, nur als ein
Bild mit verschwommenen Umrissen, ohne andern festen Kern, als den wilden
Haß gegen Oesterreich, welcher der Politik Cavour's als Schwungrad diente.
Seine Absicht, die Oesterreicher aus Italien zu vertreiben, war öffentliches
Geheimniß, sein Gedanke, die Lombardei und Venetien dem sardinischen Staate
einzuverleiben, zwar nicht eingestanden, aber doch kaum weniger zweifelhaft
und weniger einmüthig gebilligt. Bezüglich der gegen die übrigen italienischen
Staaten einzunehmenden Stellung war man völlig im Unklaren und beob¬
achtete Cavour selbst die Zurückhaltung, welche die Lage der Dinge mit sich
brachte, in der auch der verwegenste Ehrgeiz sich selbst im Traume nicht bis
zu dem Gedanken versteigen konnte, den eine beispiellose Gunst des Glücks
einige Jahre später verwirklichte. Mochte Cavour seine Annexionsgedanken
von Lombardo-Venetien immerhin auch auf die Habsburgischen Herzogtümer
Toscana und Modena so wie auf Parma ausdehnen, die ja ihre Wiederauf¬
richtung nur dem österreichischen Einschreiten nach 1848 und ihren bisherigen
Bestand verdankten, und mochten sie selbst nach der Romagna begehrliche Blicke


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/190>, abgerufen am 25.12.2024.