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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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sowohl wie seiner ministeriellen Collegen und nöthigte ihn im Sommer 1852
zum Austritte aus dem Cabinete.

Um der unmittelbaren Rückwirkung des Wechsels seiner politischen
Stellung aus dem Wege zu gehen, machte Cavour eine Reise nach Frankreich
und England, auf welcher er diesmal allenthalben als ein Mann von an¬
erkannten Gewicht aufgenommen wurde, und von der er nach drei Monaten
die verstärkte Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Anlehnung der sar¬
dinischen Politik an Großbritannien nach Turin zurückbrachte. Hier waren
unterdessen die Schwierigkeiten, welche aus dem Mangel einer kräftig führenden
Hand, aus dem Gegenstoße des Pariser Staatsstreichs, aus dem wachsenden
kirchlichen Widerstande gegen die neue Ordnung der Dinge hervorgingen,
der Regierung so weit über den Kopf gewachsen, daß Azegliv auf seine
Entlassung drang, und dem Könige rieth. Cavour als den nothwen¬
digen Mann der Lage, an die Spitze der Geschäfte zu berufen. Ca¬
vour , war bereit, das ihm angebotene Amt zu übernehmen, verweigerte je¬
doch die von Victor Emanuel gewünschte Verlängerung der bisherigen nutz¬
losen Versuche, den römischen Stuhl mit den neuen Staatszuständen auszu¬
söhnen, eben so bestimmt, wie einen Ausgleich mit der Kirche auf Kosten der
Verfassung. Nachdem der König hieraus den Versuch gemacht, ein mehr oder
weniger kirchlich gesinntes Ministerium durch Cäsar Balbo zu Stande bringen
zu lassen, der unter den nahmhaften piemontesischen Staatsmännern ver¬
gebens nach College" suchte, wurde die Neubildung des Cabinets ohne wei¬
teren Vorbehalt in die Hände Cavour's gelegt, der in den ersten Tagen des
November 18S2 den Vorsitz im neuen Ministerium übernahm, in welchem
seine nächsten Gesinnungsgenossen Dabormida, San Martina und Lamarmora
die wichtigsten Fächer ausfüllten, während er selbst sich die Finanzen, den
Ackerbau und den Handel vorbehielt.

Es war die von vornherein unverkennbare Absicht Cavour's, den Schwer¬
punkt der sardinischen Politik weiter nach links zu rücken. Er erkannte mit
richtigem Blick, daß während und weil der allgemeine Strom der europäischen
Bewegung von 1848 rückläufig geworden, ein Staat wie Sardinien, der erst
den kleineren Theil seiner Geschicke erfüllt, viel mehr Grund habe, die Dinge
in Fluß zu erhalten, als ihrem Lauf Dämme entgegenzustellen, deren Anwen¬
dung sich an andren Orten nach vorgängiger Ueberfluthung empfehlen mochte.
Auch schätzte er die Bedeutung und die Lebensfähigkeit der Reaction des Tages
vielleicht richtiger ab, als manche andere Machthaber. Genug, Cavour
glaubte die feste Grundlage des öffentlichen Interesses und die Gewähr für
eine dauerhafte Verständigung zwischen Volksgeist und Regierungspolitik in
einer Verschmelzung des gemäßigten Liberalismus mit dem gemäßigten Cvn-
servativismus, in einer Verbindung des linken mit dem rechten Centrum, wie


sowohl wie seiner ministeriellen Collegen und nöthigte ihn im Sommer 1852
zum Austritte aus dem Cabinete.

Um der unmittelbaren Rückwirkung des Wechsels seiner politischen
Stellung aus dem Wege zu gehen, machte Cavour eine Reise nach Frankreich
und England, auf welcher er diesmal allenthalben als ein Mann von an¬
erkannten Gewicht aufgenommen wurde, und von der er nach drei Monaten
die verstärkte Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Anlehnung der sar¬
dinischen Politik an Großbritannien nach Turin zurückbrachte. Hier waren
unterdessen die Schwierigkeiten, welche aus dem Mangel einer kräftig führenden
Hand, aus dem Gegenstoße des Pariser Staatsstreichs, aus dem wachsenden
kirchlichen Widerstande gegen die neue Ordnung der Dinge hervorgingen,
der Regierung so weit über den Kopf gewachsen, daß Azegliv auf seine
Entlassung drang, und dem Könige rieth. Cavour als den nothwen¬
digen Mann der Lage, an die Spitze der Geschäfte zu berufen. Ca¬
vour , war bereit, das ihm angebotene Amt zu übernehmen, verweigerte je¬
doch die von Victor Emanuel gewünschte Verlängerung der bisherigen nutz¬
losen Versuche, den römischen Stuhl mit den neuen Staatszuständen auszu¬
söhnen, eben so bestimmt, wie einen Ausgleich mit der Kirche auf Kosten der
Verfassung. Nachdem der König hieraus den Versuch gemacht, ein mehr oder
weniger kirchlich gesinntes Ministerium durch Cäsar Balbo zu Stande bringen
zu lassen, der unter den nahmhaften piemontesischen Staatsmännern ver¬
gebens nach College» suchte, wurde die Neubildung des Cabinets ohne wei¬
teren Vorbehalt in die Hände Cavour's gelegt, der in den ersten Tagen des
November 18S2 den Vorsitz im neuen Ministerium übernahm, in welchem
seine nächsten Gesinnungsgenossen Dabormida, San Martina und Lamarmora
die wichtigsten Fächer ausfüllten, während er selbst sich die Finanzen, den
Ackerbau und den Handel vorbehielt.

Es war die von vornherein unverkennbare Absicht Cavour's, den Schwer¬
punkt der sardinischen Politik weiter nach links zu rücken. Er erkannte mit
richtigem Blick, daß während und weil der allgemeine Strom der europäischen
Bewegung von 1848 rückläufig geworden, ein Staat wie Sardinien, der erst
den kleineren Theil seiner Geschicke erfüllt, viel mehr Grund habe, die Dinge
in Fluß zu erhalten, als ihrem Lauf Dämme entgegenzustellen, deren Anwen¬
dung sich an andren Orten nach vorgängiger Ueberfluthung empfehlen mochte.
Auch schätzte er die Bedeutung und die Lebensfähigkeit der Reaction des Tages
vielleicht richtiger ab, als manche andere Machthaber. Genug, Cavour
glaubte die feste Grundlage des öffentlichen Interesses und die Gewähr für
eine dauerhafte Verständigung zwischen Volksgeist und Regierungspolitik in
einer Verschmelzung des gemäßigten Liberalismus mit dem gemäßigten Cvn-
servativismus, in einer Verbindung des linken mit dem rechten Centrum, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/141>, abgerufen am 25.12.2024.