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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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kommen, und in der Hoffnung, die Regierungen jener Länder durch Dankbar¬
keit für die Turiner Politik zu gewinnen. Darüber kam das neue Ministerium
schon nach wenigen Wochen wieder zu Falle, und Ratazzi, der Haupturheber
seines Sturzes, mußte, wahrscheinlich wider Wunsch und Willen, Gioberti's
Stelle einnehmen.

Durch das Beispiel seines Vorgängers gewarnt, glaubte Ratazzi die
Politik, welche er als Oppositivnsmann verfochten, auch als Minister, auf
jede Gefahr hin. beibehalten zu sollen. Am 20. März erfolgte die Kündigung
des Mailänder Waffenstillstandes, binnen den nächsten drei Tagen wurden die
Piemontesen bei Mortara und Novara zwei Mal geschlagen, und unmittelbar
nach der letzten Niederlage leistete Karl Albert dem Staate den größten aller
Dienste, deren er jemals fähig geworden, durch seine Abdankung zu Gunsten
seines Sohnes Victor Emanuel. Mit dem Könige trat auch der Minister
zurück, der das neue Unglück verschuldet.

Der Zustand des Landes war dies Mal nahezu verzweifelt. In dem
Heere offene Meuterei, in Turin vollständige Lähmung des öffentlichen Geistes,
in Genua, der zweiten Hauptstadt des Königreichs, ein siegreicher republika¬
nischer Aufstand, im ganzen Volke Entmuthigung, Mißtrauen, Erbitterung,
Unglauben an sich selbst und an die Zukunft, Von weiterem Widerstande
gegen Oesterreich sprachen kaum noch ein paar Tollköpfe.

Der gesunde ehrliche Sinn des jungen Königs in Gemeinschaft mit der
vielseitigen Befähigung und der allgemein anerkannten Rechtschaffenheit des
von ihm an die Spitze des Ministeriums berufenen Massimo d'Azeglio fanden
die richtigen Hülfsmittel in der äußersten Noth. Victor Emanuel begann
seine Regierung mit dem Eide auf die in höfischen Kreisen und im Heere mehr
als je verrufene Verfassung, und gewann durch seine ganze Haltung von
vornherein das unbedingte Vertrauen des Landes in seine Ehrenhaftigkeit und
seinen Patriotismus, überhaupt eine Volksgunst, die sein Vater niemals verdient
und niemals besessen. Den kräftigen und klugen Maßregeln der Regierung
gelang es binnen kurzem, den Aufruhr in Genua zu beendigen, den gebeugten
Nationalgeist wieder aufzurichten, den Ton der Parteileidenschaften herabzu¬
stimmen. Die zwar harten, aber unabweislichen Friedensbedingungen Oester¬
reichs fanden allerdings heftigen Widerstand und Widerspruch in der von
Azeglio zunächst einberufenen Kammer, in welcher Cavour wiederum fehlte;
nach Auflösung derselben aber ergaben die Neuwahlen eine ministerielle Mehr¬
heit, innerhalb deren Cavour -- nachdem er sechs Monate lang vom Parla¬
mente ausgeschlossen gewesen und während des kurzen Ministeriums Ratazzi,
wie es scheint, in den Hintergrund auch des Zeitungskampfes getreten, weil
er dessen kriegerische Absichten oct^r billigen, noch im Augenblicke der Aus¬
führung entmuthigen wollte -- den bedeutendsten Platz einnahm.


kommen, und in der Hoffnung, die Regierungen jener Länder durch Dankbar¬
keit für die Turiner Politik zu gewinnen. Darüber kam das neue Ministerium
schon nach wenigen Wochen wieder zu Falle, und Ratazzi, der Haupturheber
seines Sturzes, mußte, wahrscheinlich wider Wunsch und Willen, Gioberti's
Stelle einnehmen.

Durch das Beispiel seines Vorgängers gewarnt, glaubte Ratazzi die
Politik, welche er als Oppositivnsmann verfochten, auch als Minister, auf
jede Gefahr hin. beibehalten zu sollen. Am 20. März erfolgte die Kündigung
des Mailänder Waffenstillstandes, binnen den nächsten drei Tagen wurden die
Piemontesen bei Mortara und Novara zwei Mal geschlagen, und unmittelbar
nach der letzten Niederlage leistete Karl Albert dem Staate den größten aller
Dienste, deren er jemals fähig geworden, durch seine Abdankung zu Gunsten
seines Sohnes Victor Emanuel. Mit dem Könige trat auch der Minister
zurück, der das neue Unglück verschuldet.

Der Zustand des Landes war dies Mal nahezu verzweifelt. In dem
Heere offene Meuterei, in Turin vollständige Lähmung des öffentlichen Geistes,
in Genua, der zweiten Hauptstadt des Königreichs, ein siegreicher republika¬
nischer Aufstand, im ganzen Volke Entmuthigung, Mißtrauen, Erbitterung,
Unglauben an sich selbst und an die Zukunft, Von weiterem Widerstande
gegen Oesterreich sprachen kaum noch ein paar Tollköpfe.

Der gesunde ehrliche Sinn des jungen Königs in Gemeinschaft mit der
vielseitigen Befähigung und der allgemein anerkannten Rechtschaffenheit des
von ihm an die Spitze des Ministeriums berufenen Massimo d'Azeglio fanden
die richtigen Hülfsmittel in der äußersten Noth. Victor Emanuel begann
seine Regierung mit dem Eide auf die in höfischen Kreisen und im Heere mehr
als je verrufene Verfassung, und gewann durch seine ganze Haltung von
vornherein das unbedingte Vertrauen des Landes in seine Ehrenhaftigkeit und
seinen Patriotismus, überhaupt eine Volksgunst, die sein Vater niemals verdient
und niemals besessen. Den kräftigen und klugen Maßregeln der Regierung
gelang es binnen kurzem, den Aufruhr in Genua zu beendigen, den gebeugten
Nationalgeist wieder aufzurichten, den Ton der Parteileidenschaften herabzu¬
stimmen. Die zwar harten, aber unabweislichen Friedensbedingungen Oester¬
reichs fanden allerdings heftigen Widerstand und Widerspruch in der von
Azeglio zunächst einberufenen Kammer, in welcher Cavour wiederum fehlte;
nach Auflösung derselben aber ergaben die Neuwahlen eine ministerielle Mehr¬
heit, innerhalb deren Cavour — nachdem er sechs Monate lang vom Parla¬
mente ausgeschlossen gewesen und während des kurzen Ministeriums Ratazzi,
wie es scheint, in den Hintergrund auch des Zeitungskampfes getreten, weil
er dessen kriegerische Absichten oct^r billigen, noch im Augenblicke der Aus¬
führung entmuthigen wollte — den bedeutendsten Platz einnahm.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/137>, abgerufen am 25.12.2024.