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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Großen und Ganzen sind -- Rußland abgesehen -- der evangelischen oder
römisch-katholischen Kirche angehörig. Kein Zwang treibt die Volksgenossen
in irgend eine Religionsgemeinschaft, aber das Volk ehrt sich selbst, indem
es die Kirchen ehrt, in denen, mit wenigen Ausnahmen, es seine religiös¬
sittliche Heimath gefunden hat. Und der Staat, der nicht blos Rechtsstaat,
sondern auch Kulturstaat ist, und der nicht blos die geistigen, sondern auch
die sittlichen Kräfte bilden will, sieht in der Kirche eine Gemeinschaft, welche,
wie keine andere, das religiöse und damit das sittliche Leben zu erzeugen, zu
erhalten, zu fördern vermag, und unterstellt das Volksleben in mannichfacher
Beziehung ihren Einflüssen. Der so von den Einflüssen der Kirche selbst be¬
stimmte Staat übt mittelbar tiefgreifende Einwirkungen auf diese aus, theils
durch Anordnungen und Einrichtungen, die das theologische Studium regeln,
theils durch Theilnahme an der Besetzung wichtiger Aemter, theils durch Be¬
aufsichtigung ihrer Verwaltung und ihres Rechtsverfahrens, deren Normen
unter seiner Genehmigung entstanden sind. So bildet sich das System der
Wechselwirkung zwischen Kirche und Staat, welches beiden heilsam ist, jener,
indem sie durch den Rechtsstaat vor hierarchischer Willkür, durch den Kultur¬
staat vor phantastischen Verirrungen des religiösen Denkens geschützt wird,
diesem, indem die ethische Basis und der ethische Zweck seines Daseins
ihm stetig vergegenwärtigt und die Aufgabe durch seine Ordnungen dem
Bau des Reiches Gottes auf Erden zu dienen, ihm stetig gestellt wird.

Beide Systeme, das System der Freikirche und das System der privile-
girten Kirche, bringen gewisse Gefahren mit sich und befördern gewisse Tu¬
genden. In der Freikirche gedeiht das Interesse am kirchlichen Leben, die
Selbstzucht, der Thätigkeitstrieb, das Bewußtsein eigner Verantwortlichkeit,
die Kraft zur Aufopferung, dagegen bildet sich auch leicht der pharisäische
Hochmuth in dem Ganzen der Gemeinschaft und im einzelnen Mitgliede, die
Eifersucht auf andere Denominationen, die Proselytenmacherei, Extravaganz
in Dogma und Sitte. In der privilegirten Kirche wiederum entwickelt sich
der Geist der Pietät gegen die Kirche und ihre Institutionen, das kirchliche
Leben gewinnt Ruhe, Stetigkeit, Sicherheit, die religiöse Ueberzeugung be¬
wahrt die festen Grenzen allgemeiner, in weiteren Kreisen gültiger Vorstel¬
lungen, und irrt nicht auf die Wege willkürlicher Absonderlichkeiten ab, Reli¬
gion und Kirche endlich werden mehr gespürt als Factoren, welche das öf¬
fentliche Leben bedingen, als objective Mächte, die das Volksleben erziehen,
und zu denen es als unantastbaren Heiligthümern emporschaut. Aber freilich
schleicht sich der Mechanismus äußerer Kirchlichkeit ohne innere religiöse Lebendig¬
keit, und als Folge davon bald eine Geringschätzung des sittlichen Handelns
bald religiöse Gleichgiltigkeit und Unglaube hier leichter ein. Die Freikirche
hebt den Einzelnen, weniger das Ganze, die privilegirte Kirche fördert das


Großen und Ganzen sind — Rußland abgesehen — der evangelischen oder
römisch-katholischen Kirche angehörig. Kein Zwang treibt die Volksgenossen
in irgend eine Religionsgemeinschaft, aber das Volk ehrt sich selbst, indem
es die Kirchen ehrt, in denen, mit wenigen Ausnahmen, es seine religiös¬
sittliche Heimath gefunden hat. Und der Staat, der nicht blos Rechtsstaat,
sondern auch Kulturstaat ist, und der nicht blos die geistigen, sondern auch
die sittlichen Kräfte bilden will, sieht in der Kirche eine Gemeinschaft, welche,
wie keine andere, das religiöse und damit das sittliche Leben zu erzeugen, zu
erhalten, zu fördern vermag, und unterstellt das Volksleben in mannichfacher
Beziehung ihren Einflüssen. Der so von den Einflüssen der Kirche selbst be¬
stimmte Staat übt mittelbar tiefgreifende Einwirkungen auf diese aus, theils
durch Anordnungen und Einrichtungen, die das theologische Studium regeln,
theils durch Theilnahme an der Besetzung wichtiger Aemter, theils durch Be¬
aufsichtigung ihrer Verwaltung und ihres Rechtsverfahrens, deren Normen
unter seiner Genehmigung entstanden sind. So bildet sich das System der
Wechselwirkung zwischen Kirche und Staat, welches beiden heilsam ist, jener,
indem sie durch den Rechtsstaat vor hierarchischer Willkür, durch den Kultur¬
staat vor phantastischen Verirrungen des religiösen Denkens geschützt wird,
diesem, indem die ethische Basis und der ethische Zweck seines Daseins
ihm stetig vergegenwärtigt und die Aufgabe durch seine Ordnungen dem
Bau des Reiches Gottes auf Erden zu dienen, ihm stetig gestellt wird.

Beide Systeme, das System der Freikirche und das System der privile-
girten Kirche, bringen gewisse Gefahren mit sich und befördern gewisse Tu¬
genden. In der Freikirche gedeiht das Interesse am kirchlichen Leben, die
Selbstzucht, der Thätigkeitstrieb, das Bewußtsein eigner Verantwortlichkeit,
die Kraft zur Aufopferung, dagegen bildet sich auch leicht der pharisäische
Hochmuth in dem Ganzen der Gemeinschaft und im einzelnen Mitgliede, die
Eifersucht auf andere Denominationen, die Proselytenmacherei, Extravaganz
in Dogma und Sitte. In der privilegirten Kirche wiederum entwickelt sich
der Geist der Pietät gegen die Kirche und ihre Institutionen, das kirchliche
Leben gewinnt Ruhe, Stetigkeit, Sicherheit, die religiöse Ueberzeugung be¬
wahrt die festen Grenzen allgemeiner, in weiteren Kreisen gültiger Vorstel¬
lungen, und irrt nicht auf die Wege willkürlicher Absonderlichkeiten ab, Reli¬
gion und Kirche endlich werden mehr gespürt als Factoren, welche das öf¬
fentliche Leben bedingen, als objective Mächte, die das Volksleben erziehen,
und zu denen es als unantastbaren Heiligthümern emporschaut. Aber freilich
schleicht sich der Mechanismus äußerer Kirchlichkeit ohne innere religiöse Lebendig¬
keit, und als Folge davon bald eine Geringschätzung des sittlichen Handelns
bald religiöse Gleichgiltigkeit und Unglaube hier leichter ein. Die Freikirche
hebt den Einzelnen, weniger das Ganze, die privilegirte Kirche fördert das


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[0461] Großen und Ganzen sind — Rußland abgesehen — der evangelischen oder römisch-katholischen Kirche angehörig. Kein Zwang treibt die Volksgenossen in irgend eine Religionsgemeinschaft, aber das Volk ehrt sich selbst, indem es die Kirchen ehrt, in denen, mit wenigen Ausnahmen, es seine religiös¬ sittliche Heimath gefunden hat. Und der Staat, der nicht blos Rechtsstaat, sondern auch Kulturstaat ist, und der nicht blos die geistigen, sondern auch die sittlichen Kräfte bilden will, sieht in der Kirche eine Gemeinschaft, welche, wie keine andere, das religiöse und damit das sittliche Leben zu erzeugen, zu erhalten, zu fördern vermag, und unterstellt das Volksleben in mannichfacher Beziehung ihren Einflüssen. Der so von den Einflüssen der Kirche selbst be¬ stimmte Staat übt mittelbar tiefgreifende Einwirkungen auf diese aus, theils durch Anordnungen und Einrichtungen, die das theologische Studium regeln, theils durch Theilnahme an der Besetzung wichtiger Aemter, theils durch Be¬ aufsichtigung ihrer Verwaltung und ihres Rechtsverfahrens, deren Normen unter seiner Genehmigung entstanden sind. So bildet sich das System der Wechselwirkung zwischen Kirche und Staat, welches beiden heilsam ist, jener, indem sie durch den Rechtsstaat vor hierarchischer Willkür, durch den Kultur¬ staat vor phantastischen Verirrungen des religiösen Denkens geschützt wird, diesem, indem die ethische Basis und der ethische Zweck seines Daseins ihm stetig vergegenwärtigt und die Aufgabe durch seine Ordnungen dem Bau des Reiches Gottes auf Erden zu dienen, ihm stetig gestellt wird. Beide Systeme, das System der Freikirche und das System der privile- girten Kirche, bringen gewisse Gefahren mit sich und befördern gewisse Tu¬ genden. In der Freikirche gedeiht das Interesse am kirchlichen Leben, die Selbstzucht, der Thätigkeitstrieb, das Bewußtsein eigner Verantwortlichkeit, die Kraft zur Aufopferung, dagegen bildet sich auch leicht der pharisäische Hochmuth in dem Ganzen der Gemeinschaft und im einzelnen Mitgliede, die Eifersucht auf andere Denominationen, die Proselytenmacherei, Extravaganz in Dogma und Sitte. In der privilegirten Kirche wiederum entwickelt sich der Geist der Pietät gegen die Kirche und ihre Institutionen, das kirchliche Leben gewinnt Ruhe, Stetigkeit, Sicherheit, die religiöse Ueberzeugung be¬ wahrt die festen Grenzen allgemeiner, in weiteren Kreisen gültiger Vorstel¬ lungen, und irrt nicht auf die Wege willkürlicher Absonderlichkeiten ab, Reli¬ gion und Kirche endlich werden mehr gespürt als Factoren, welche das öf¬ fentliche Leben bedingen, als objective Mächte, die das Volksleben erziehen, und zu denen es als unantastbaren Heiligthümern emporschaut. Aber freilich schleicht sich der Mechanismus äußerer Kirchlichkeit ohne innere religiöse Lebendig¬ keit, und als Folge davon bald eine Geringschätzung des sittlichen Handelns bald religiöse Gleichgiltigkeit und Unglaube hier leichter ein. Die Freikirche hebt den Einzelnen, weniger das Ganze, die privilegirte Kirche fördert das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/461>, abgerufen am 06.02.2025.