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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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ob es nicht in vieler Beziehung vortheilhafter gewesen wäre, wenn wir irgend
wo anders, im Nothfall bei den Chinesen oder Japanesen hätten in die Schule
gehen können, da wir denn doch einmal kraft unseres brennenden Durstes
nach Bildung und Unterricht, irgend wo in die Schule gehen und irgend
wen als unsern unfehlbaren Lehrmeister verehren müssen. Denn was uns
Frankreich seit 1815 gelehrt hat, mag wol denen, die den jedesmaligen Cursus
mit der bei uns dafür pflichtmäßig gebotenen Begeisterung durchgemacht haben,
werthvoll dünken, schade nur, daß immer jede spätere Generation von Schü¬
lern zu der Einsicht gelangte, die bisherige Methode und der bisherige Lern¬
stoff sei, wie man zu sagen pflegt, nicht einen Schuß Pulver werth. Besäßen
wir jene erstaunliche Beweglichkeit und Geschmeidigkeit des Geistes, die unsere
Lehrmeister an der Seine als ihr Erbtheil von der Natur oder den alten
Galliern bekommen haben, so würde der Schade nicht so groß sein. Aber
bei uns, wo Wahrheit und Irrthum centnerschwer auf der Skala des Ein¬
zelnen lastet und es selten einem gelingt, durch eine rasche Schwenkung aus
einer schulmäßigen Position in die andere zu gelangen, ohne dabei auf die
Nase zu fallen, ist die Wirkung eine andere. Alle die verschiedenen Systeme
und Dogmen, die wir so nach einander von Paris her importirt haben und
die bei uns alle noch als Ladenhüter neben einander aufgestapelt liegen, nicht
wie am Orte ihres Ursprungs im rechten Moment als alberner Ballast ins
Meer geworfen worden sind, müssen eine Confusion der Geister und eine Be¬
schwerung der Glieder erzeugen, aus der gar nichts außer nur noch mehr
Confusion und endlich das eitle Chaos hervorgeht. ,

Wie rasch sind die Franzosen über den doctrinären Liberalismus mit
idealistisch-kosmopolitischer Schminke hinweggehüpft, der in den zwanziger
Jahren als Waffe gegen die schwarze und weiße Reaction der legitimen
Pfaffen und Junker so gute Wirkung that. Als beide vorläufig, die letzten
vielleicht für immer, durch die Juligewitter weggefegt worden, wurde auch die
Waffe, die gerade für sie geschliffen war und zu nichts anderem taugen konnte,
sofort zerbrochen und zu etwas anderem eingeschmolzen. Wir aber zehren
noch heute in unzähligen Bestandtheilen unseres politischen, socialen, national¬
ökonomischen Denkens und Handelns von jenem Unterricht, den wir in der
Schule der Guizot, Lafayette, Royer-Collard, Sey ze. heimgetragen haben.
Aber wir ließen auch die Zeit des Julikönigthums nicht ungenützt verstreichen:
der nüchterne Egoismus dieser Periode, ihre durch und durch und bis zum
Entsetzen des Geistes practischen und verständigen Tendenzen, die in ein System
gebrachte materialistische Philiströsität haben wir nach unserer Art mit gläu¬
bigem Enthusiasmus als den Ausbau aller menschlichen Weisheit herüber¬
gebracht und glauben noch heute, neben den idealistischen Seifenblasen des
Doctrinarismus an ihre absolute und ewige Wahrheit. Außerdem aber auch


ob es nicht in vieler Beziehung vortheilhafter gewesen wäre, wenn wir irgend
wo anders, im Nothfall bei den Chinesen oder Japanesen hätten in die Schule
gehen können, da wir denn doch einmal kraft unseres brennenden Durstes
nach Bildung und Unterricht, irgend wo in die Schule gehen und irgend
wen als unsern unfehlbaren Lehrmeister verehren müssen. Denn was uns
Frankreich seit 1815 gelehrt hat, mag wol denen, die den jedesmaligen Cursus
mit der bei uns dafür pflichtmäßig gebotenen Begeisterung durchgemacht haben,
werthvoll dünken, schade nur, daß immer jede spätere Generation von Schü¬
lern zu der Einsicht gelangte, die bisherige Methode und der bisherige Lern¬
stoff sei, wie man zu sagen pflegt, nicht einen Schuß Pulver werth. Besäßen
wir jene erstaunliche Beweglichkeit und Geschmeidigkeit des Geistes, die unsere
Lehrmeister an der Seine als ihr Erbtheil von der Natur oder den alten
Galliern bekommen haben, so würde der Schade nicht so groß sein. Aber
bei uns, wo Wahrheit und Irrthum centnerschwer auf der Skala des Ein¬
zelnen lastet und es selten einem gelingt, durch eine rasche Schwenkung aus
einer schulmäßigen Position in die andere zu gelangen, ohne dabei auf die
Nase zu fallen, ist die Wirkung eine andere. Alle die verschiedenen Systeme
und Dogmen, die wir so nach einander von Paris her importirt haben und
die bei uns alle noch als Ladenhüter neben einander aufgestapelt liegen, nicht
wie am Orte ihres Ursprungs im rechten Moment als alberner Ballast ins
Meer geworfen worden sind, müssen eine Confusion der Geister und eine Be¬
schwerung der Glieder erzeugen, aus der gar nichts außer nur noch mehr
Confusion und endlich das eitle Chaos hervorgeht. ,

Wie rasch sind die Franzosen über den doctrinären Liberalismus mit
idealistisch-kosmopolitischer Schminke hinweggehüpft, der in den zwanziger
Jahren als Waffe gegen die schwarze und weiße Reaction der legitimen
Pfaffen und Junker so gute Wirkung that. Als beide vorläufig, die letzten
vielleicht für immer, durch die Juligewitter weggefegt worden, wurde auch die
Waffe, die gerade für sie geschliffen war und zu nichts anderem taugen konnte,
sofort zerbrochen und zu etwas anderem eingeschmolzen. Wir aber zehren
noch heute in unzähligen Bestandtheilen unseres politischen, socialen, national¬
ökonomischen Denkens und Handelns von jenem Unterricht, den wir in der
Schule der Guizot, Lafayette, Royer-Collard, Sey ze. heimgetragen haben.
Aber wir ließen auch die Zeit des Julikönigthums nicht ungenützt verstreichen:
der nüchterne Egoismus dieser Periode, ihre durch und durch und bis zum
Entsetzen des Geistes practischen und verständigen Tendenzen, die in ein System
gebrachte materialistische Philiströsität haben wir nach unserer Art mit gläu¬
bigem Enthusiasmus als den Ausbau aller menschlichen Weisheit herüber¬
gebracht und glauben noch heute, neben den idealistischen Seifenblasen des
Doctrinarismus an ihre absolute und ewige Wahrheit. Außerdem aber auch


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[0388] ob es nicht in vieler Beziehung vortheilhafter gewesen wäre, wenn wir irgend wo anders, im Nothfall bei den Chinesen oder Japanesen hätten in die Schule gehen können, da wir denn doch einmal kraft unseres brennenden Durstes nach Bildung und Unterricht, irgend wo in die Schule gehen und irgend wen als unsern unfehlbaren Lehrmeister verehren müssen. Denn was uns Frankreich seit 1815 gelehrt hat, mag wol denen, die den jedesmaligen Cursus mit der bei uns dafür pflichtmäßig gebotenen Begeisterung durchgemacht haben, werthvoll dünken, schade nur, daß immer jede spätere Generation von Schü¬ lern zu der Einsicht gelangte, die bisherige Methode und der bisherige Lern¬ stoff sei, wie man zu sagen pflegt, nicht einen Schuß Pulver werth. Besäßen wir jene erstaunliche Beweglichkeit und Geschmeidigkeit des Geistes, die unsere Lehrmeister an der Seine als ihr Erbtheil von der Natur oder den alten Galliern bekommen haben, so würde der Schade nicht so groß sein. Aber bei uns, wo Wahrheit und Irrthum centnerschwer auf der Skala des Ein¬ zelnen lastet und es selten einem gelingt, durch eine rasche Schwenkung aus einer schulmäßigen Position in die andere zu gelangen, ohne dabei auf die Nase zu fallen, ist die Wirkung eine andere. Alle die verschiedenen Systeme und Dogmen, die wir so nach einander von Paris her importirt haben und die bei uns alle noch als Ladenhüter neben einander aufgestapelt liegen, nicht wie am Orte ihres Ursprungs im rechten Moment als alberner Ballast ins Meer geworfen worden sind, müssen eine Confusion der Geister und eine Be¬ schwerung der Glieder erzeugen, aus der gar nichts außer nur noch mehr Confusion und endlich das eitle Chaos hervorgeht. , Wie rasch sind die Franzosen über den doctrinären Liberalismus mit idealistisch-kosmopolitischer Schminke hinweggehüpft, der in den zwanziger Jahren als Waffe gegen die schwarze und weiße Reaction der legitimen Pfaffen und Junker so gute Wirkung that. Als beide vorläufig, die letzten vielleicht für immer, durch die Juligewitter weggefegt worden, wurde auch die Waffe, die gerade für sie geschliffen war und zu nichts anderem taugen konnte, sofort zerbrochen und zu etwas anderem eingeschmolzen. Wir aber zehren noch heute in unzähligen Bestandtheilen unseres politischen, socialen, national¬ ökonomischen Denkens und Handelns von jenem Unterricht, den wir in der Schule der Guizot, Lafayette, Royer-Collard, Sey ze. heimgetragen haben. Aber wir ließen auch die Zeit des Julikönigthums nicht ungenützt verstreichen: der nüchterne Egoismus dieser Periode, ihre durch und durch und bis zum Entsetzen des Geistes practischen und verständigen Tendenzen, die in ein System gebrachte materialistische Philiströsität haben wir nach unserer Art mit gläu¬ bigem Enthusiasmus als den Ausbau aller menschlichen Weisheit herüber¬ gebracht und glauben noch heute, neben den idealistischen Seifenblasen des Doctrinarismus an ihre absolute und ewige Wahrheit. Außerdem aber auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/388>, abgerufen am 06.02.2025.