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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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gegeben ist. Deßhalb wurde schon im schriftlosen Zeitalter der Versuch ge¬
macht, bestimmte Sinnbilder. Merk- und Wahrzeichen festzustellen und
mit deren Hülfe wichtigere Thatsachen der Nachwelt aufzubewahren oder be¬
deutsame Vorgänge innerhalb des Kreises der Mitlebenden kenntlich 'zu ma¬
chen. Mit solchen Sinnbildern bezeichnete man große Ereignisse, wie Kriege,
Staatsactionen u. f. w.; im Verkehrsleben erhielten gewisse Zeichen eine be¬
stimmte, allgemein verständliche Bedeutung. Beispielsweise wurde bei den
Germanen durch die Behändigung eines von der Thür des Hauses abgehauenen
Spans der Act der gesetzlichen Uebergabe dieses Besitzthums an einen an¬
deren Eigenthümer bezeichnet. Die Ureinwohner Italiens pflegten an den
Grenzsteinen Zeichen anzubringen, durch welche die Oertlichkeit, an die der
Stein gehörte, genau bezeichnet wurde, z. B. ein Kreuz als Zeichen der Auf¬
stellung an sich durchkreuzenden Wegen, Bilder von Roßhufen als Zeichen der
Nähe von Quellen, Tränkstätten u. f. w. Solche Grenzsteine hatten die Be¬
deutung von Grenzverträgen. Weit verbreitet und uralt war der Gebrauch
von Kerbhölzern (Stäben), deren Einschnitte den Betrag von Schuldverbind¬
lichkeiten bezeichneten und die nachher zugleich als Zahlungsbeweis zu dienen
hatten. Im Skandinavischen Norden, namentlich in Island, spielten gewisse
Zeichen, welche die Familien im Schilde führten, die "Märker", als Beglau¬
bigungen u. f. w. eine wichtige Rolle. Eine bindende, die Verpflichtung zu
einer Handlung ?c. in sich schließende Bedeutung schrieb man schon im hohen
Alterthume dem "Knotenschürzen" (imponers noäos) zu. Von einzelnen anderen
Zeichen endlich ist als das älteste und zum Theil bedeutsamste das des Kreu¬
zes (das Hebräische Tau) zu erwähnen, dessen Alter die Entstehung des Christen¬
thums weit überragt und das einst bei den Aegyptern in eben so hohem An¬
sehen stand, als bei den Eingeborenen Kumaras in Amerika.

Ein neuerdings erschienenes umfangreiches Werk des Historikers Prof.
Heinrich Wuttke*) in Leipzig unternimmt es, die Anfänge des Schriftthums,
namentlich den Uebergang von Sinnbildern und Zeichen zur Lautschrift
bei den einzelnen Völkergruppen auf Grund wissenschaftlicher Forschungen
zahlreicher Gelehrten eingehend darzustellen; ein Unternehmen, welches mit
Recht als ein werthvoller Beitrag zu der Kulturgeschichte der Menschheit zu
bezeichnen ist.

Im Gegensatze zu der bisherigen Anschauung glaubt Prof. Wuttke als
den Anfang der Bilderschrift die Tatuirung annehmen zu müssen, welche
noch heute bei zahlreichen Völkerschaften (Eskimos, Aleuten, Neuseeländern)
im Gebrauch ist.



") Geschichte der Schrift und des Schriftthums. Von Heinrich Wuttke. Leipzig. Ernst
Fleischer, l. Band 1872.

gegeben ist. Deßhalb wurde schon im schriftlosen Zeitalter der Versuch ge¬
macht, bestimmte Sinnbilder. Merk- und Wahrzeichen festzustellen und
mit deren Hülfe wichtigere Thatsachen der Nachwelt aufzubewahren oder be¬
deutsame Vorgänge innerhalb des Kreises der Mitlebenden kenntlich 'zu ma¬
chen. Mit solchen Sinnbildern bezeichnete man große Ereignisse, wie Kriege,
Staatsactionen u. f. w.; im Verkehrsleben erhielten gewisse Zeichen eine be¬
stimmte, allgemein verständliche Bedeutung. Beispielsweise wurde bei den
Germanen durch die Behändigung eines von der Thür des Hauses abgehauenen
Spans der Act der gesetzlichen Uebergabe dieses Besitzthums an einen an¬
deren Eigenthümer bezeichnet. Die Ureinwohner Italiens pflegten an den
Grenzsteinen Zeichen anzubringen, durch welche die Oertlichkeit, an die der
Stein gehörte, genau bezeichnet wurde, z. B. ein Kreuz als Zeichen der Auf¬
stellung an sich durchkreuzenden Wegen, Bilder von Roßhufen als Zeichen der
Nähe von Quellen, Tränkstätten u. f. w. Solche Grenzsteine hatten die Be¬
deutung von Grenzverträgen. Weit verbreitet und uralt war der Gebrauch
von Kerbhölzern (Stäben), deren Einschnitte den Betrag von Schuldverbind¬
lichkeiten bezeichneten und die nachher zugleich als Zahlungsbeweis zu dienen
hatten. Im Skandinavischen Norden, namentlich in Island, spielten gewisse
Zeichen, welche die Familien im Schilde führten, die „Märker", als Beglau¬
bigungen u. f. w. eine wichtige Rolle. Eine bindende, die Verpflichtung zu
einer Handlung ?c. in sich schließende Bedeutung schrieb man schon im hohen
Alterthume dem „Knotenschürzen" (imponers noäos) zu. Von einzelnen anderen
Zeichen endlich ist als das älteste und zum Theil bedeutsamste das des Kreu¬
zes (das Hebräische Tau) zu erwähnen, dessen Alter die Entstehung des Christen¬
thums weit überragt und das einst bei den Aegyptern in eben so hohem An¬
sehen stand, als bei den Eingeborenen Kumaras in Amerika.

Ein neuerdings erschienenes umfangreiches Werk des Historikers Prof.
Heinrich Wuttke*) in Leipzig unternimmt es, die Anfänge des Schriftthums,
namentlich den Uebergang von Sinnbildern und Zeichen zur Lautschrift
bei den einzelnen Völkergruppen auf Grund wissenschaftlicher Forschungen
zahlreicher Gelehrten eingehend darzustellen; ein Unternehmen, welches mit
Recht als ein werthvoller Beitrag zu der Kulturgeschichte der Menschheit zu
bezeichnen ist.

Im Gegensatze zu der bisherigen Anschauung glaubt Prof. Wuttke als
den Anfang der Bilderschrift die Tatuirung annehmen zu müssen, welche
noch heute bei zahlreichen Völkerschaften (Eskimos, Aleuten, Neuseeländern)
im Gebrauch ist.



") Geschichte der Schrift und des Schriftthums. Von Heinrich Wuttke. Leipzig. Ernst
Fleischer, l. Band 1872.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/370>, abgerufen am 05.02.2025.