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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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-- der ärmste Preuße ehrt eine solche Medaille als eine unschätzbare Reliquie und
trägt sie an festlichen Tagen als schönsten Ehrenschmuck. Wie anders diese französi¬
schen Krieger. Alle Kleidungsstücke suchten sie in klingende Münze zu verwandeln:
nicht allein die nach Bedürfniß vertheilten wärmenden Unterkleider, die feinsten
Flanellhemden, Jacken, Unterhosen, Strümpfe, von mitleidigen Herzen in
Frankreich und Deutschland gesammelt, sogar den Rock vom Leibe verkauften
sie gegen einige elende Sous. Eines Tages beklagte ein Gefangener sich dar¬
über, daß er kein Brod empfangen; die angestellte Untersuchung erwies, daß
er das ihm gelieferte Brod versilbert habe, in Folge dessen erhielt der Geselle
Gelegenheit, sich auf einige Tage in beschaulicher Einsamkeit mit den Ein¬
richtungen eines preußischen Arrestlokales bekannt zu machen. Und welche
Bedürfnisse befriedigten sie mit dem erlösten Geld? Es wurde Tabak ge¬
kauft. So sehr war das Rauchen ihnen zur Gewohnheit geworden, allerdings
eine leicht zu erklärende Thatsache, wenn man erwägt, daß dem französischen
Soldaten der Tabak geliefert wird. Der oben bezeichnete Handelsunfug, ver¬
anlaßte die Anlegung von Montirungslisten (4. Veetiov. lütat ach "Koth
ä'tmdillement as 1a ans section), in welchen die sämmtlichen Bekleidungs¬
gegenstände jedes Einzelnen eingetragen waren; mit Zugrundelegung dieser
statistischen Aufstellungen wurde wöchentlich zweimal ein Montirungs - Appell
-- der preußische Soldat nennt es Lumpen-Apelt -- abgehalten, auf welchem
Jeder seine ganze Garderobe vorzeigen mußte, und wehe dem, welchem ein
Stück fehlte!

Das Stehlen war an der Tagesordnung, (on n'enteuä parler yue Ah
volle tous les matins, on se volle tous les uns les a-utres, e'est no vrai
Mlage je n'g,urs,it Mwais oru que 1s soläat kranea-ig est aussi voleur
eomme it est g.ujourä'Iiui.) -- Die speciell militärische Disciplin hatte einen
gewaltigen Riß erhalten. Ihre eigenen Chargirten, die Sergeanten, Adju¬
tanten ze. respectirten die Gefangenen nicht; es kam ihnen sogar nicht darauf
an, einmal den einen oder anderen ihrer Vorgesetzten durchzuprügeln. Laut
kriegsgerichtlichen Erkenntnisses. bestätigt am 2. Januar 1871, wurde ein
Kriegsgefangener "wegen thätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten im Kriege
mit 10 Jahre Festungsstrafe" bestraft. Auf der andern Seite kümmerten die
französischen Chargirten sich aber auch auffallend wenig um das Wohl und
Wehe der gemeinen Soldaten.

Trotz der ohne Zweifel auch in Frankreich geltenden Vorschriften des
militärischen Rituales wandten die Gefangenen sich mit den verschiedenartigsten
Gesuchen direkt an hohe und höchste Behörden. Einer klagte beim Gouverneur
darüber, daß die angekommenen Briefe zu spät zur Vertheilung gelangten; ein
Anderer wagte es, sich mit einer Bitte an Ihre Majestät die Königin zu


— der ärmste Preuße ehrt eine solche Medaille als eine unschätzbare Reliquie und
trägt sie an festlichen Tagen als schönsten Ehrenschmuck. Wie anders diese französi¬
schen Krieger. Alle Kleidungsstücke suchten sie in klingende Münze zu verwandeln:
nicht allein die nach Bedürfniß vertheilten wärmenden Unterkleider, die feinsten
Flanellhemden, Jacken, Unterhosen, Strümpfe, von mitleidigen Herzen in
Frankreich und Deutschland gesammelt, sogar den Rock vom Leibe verkauften
sie gegen einige elende Sous. Eines Tages beklagte ein Gefangener sich dar¬
über, daß er kein Brod empfangen; die angestellte Untersuchung erwies, daß
er das ihm gelieferte Brod versilbert habe, in Folge dessen erhielt der Geselle
Gelegenheit, sich auf einige Tage in beschaulicher Einsamkeit mit den Ein¬
richtungen eines preußischen Arrestlokales bekannt zu machen. Und welche
Bedürfnisse befriedigten sie mit dem erlösten Geld? Es wurde Tabak ge¬
kauft. So sehr war das Rauchen ihnen zur Gewohnheit geworden, allerdings
eine leicht zu erklärende Thatsache, wenn man erwägt, daß dem französischen
Soldaten der Tabak geliefert wird. Der oben bezeichnete Handelsunfug, ver¬
anlaßte die Anlegung von Montirungslisten (4. Veetiov. lütat ach «Koth
ä'tmdillement as 1a ans section), in welchen die sämmtlichen Bekleidungs¬
gegenstände jedes Einzelnen eingetragen waren; mit Zugrundelegung dieser
statistischen Aufstellungen wurde wöchentlich zweimal ein Montirungs - Appell
— der preußische Soldat nennt es Lumpen-Apelt — abgehalten, auf welchem
Jeder seine ganze Garderobe vorzeigen mußte, und wehe dem, welchem ein
Stück fehlte!

Das Stehlen war an der Tagesordnung, (on n'enteuä parler yue Ah
volle tous les matins, on se volle tous les uns les a-utres, e'est no vrai
Mlage je n'g,urs,it Mwais oru que 1s soläat kranea-ig est aussi voleur
eomme it est g.ujourä'Iiui.) — Die speciell militärische Disciplin hatte einen
gewaltigen Riß erhalten. Ihre eigenen Chargirten, die Sergeanten, Adju¬
tanten ze. respectirten die Gefangenen nicht; es kam ihnen sogar nicht darauf
an, einmal den einen oder anderen ihrer Vorgesetzten durchzuprügeln. Laut
kriegsgerichtlichen Erkenntnisses. bestätigt am 2. Januar 1871, wurde ein
Kriegsgefangener „wegen thätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten im Kriege
mit 10 Jahre Festungsstrafe" bestraft. Auf der andern Seite kümmerten die
französischen Chargirten sich aber auch auffallend wenig um das Wohl und
Wehe der gemeinen Soldaten.

Trotz der ohne Zweifel auch in Frankreich geltenden Vorschriften des
militärischen Rituales wandten die Gefangenen sich mit den verschiedenartigsten
Gesuchen direkt an hohe und höchste Behörden. Einer klagte beim Gouverneur
darüber, daß die angekommenen Briefe zu spät zur Vertheilung gelangten; ein
Anderer wagte es, sich mit einer Bitte an Ihre Majestät die Königin zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/364>, abgerufen am 05.02.2025.