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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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anderes sei, als die bis zur Sicherheit erhobene Fertigkeit, in einem Tonstücke
jedem Tone seine besondere wohl abgewogene Stärke zu geben, der zeigt, daß
er nicht die leiseste Ahnung davon hat, was man eigentlich unter "Anschlag"
versteht. Zu welchem Zwecke suchen denn angehende Virtuosen wenigstens
einige Monate lang den Unterricht der größten Meister des Clavierspiels zu
genießen? Etwa um zu lernen, wie man ein <ZeerWccmcIo gleichmäßig auf
acht Takte vertheilt? Hat Bruno Meyer nie davon reden hören, daß Tausig
einen ganz andern Anschlag hatte, als Rubinstein, und dieser wieder einen
ganz anderen als Clara Schumann? Selbst der nüchternste Naturwissenschafter
wird, wofern er tiefere musikalische Bildung besitzt, ohne weiteres einräumen,
daß das Räthsel vom Anschlag nicht blos eine Clavierspielereinbildung ist,
daß es sich nicht dabei um Tonstärke, sondern um Tonart, nicht um quan¬
titative, sondern um qualitative Unterschiede, freilich dem Laien schwer de-
finirbare und demonstrirbare Unterschiede handelt. Thaisache ist, daß verschie¬
dene Clavierspieler ein und dasselbe Stück auf ein und demselben In¬
strumente genau in demselben Tempo, mit denselben Forte- und Piano-
Graden spielen können, und daß doch etwas verschiedenes dabei herauskommt.
Warum sagt man denn, um nur einige grobe Unterschiede herauszugreifen,
von dem einen Klavierspieler, daß er "trommle", von einem andern, daß
er >in die Tasten "steche" oder "bohre", von einem dritten, daß er "sammet¬
weich" spiele? Und wie kommt es, daß Bruno Meyer selbst sich den unbe¬
dachten Ausdruck entschlüpfen läßt und von "hartem Einsatz" redet? Wie
kommt es, daß er von Stücken spricht, die "gut gespielt" sich auf dem Clavier
"trefflich ausnehmen" ? Tonbildung und Tonstärke sind eben himmelweit
verschiedene Dinge. Das Instrument hat keine Seele, und kein Instrument
hat eine; es ist ungerecht, das Clavier als "seelenloses Instrument" den üb¬
rigen gegenüber zu stellen. Der beseelte Mensch, der Künstler, der die Taste
berührt, bildet den Ton und legt seine Seele hinein; der Ball, der aus
einer gewissen Höhe auf die Taste herabfällt, kann vielleicht gerade dieselbe
akustische Begränzung des Tones hervorrufen, wie der Finger, aber er wird
nie einen Ton "bilden".

Außer der angeblichen Bildungsunfähigkeit des Tones hält Bruno
Meyer es für eine weitere Schwäche des Claviers, daß man die angeschlagenen
Töne, während sie in der Wirklichkeit verklingen und mit jedem Zeittheilchen
schwächer werden, in der Einbildung festhalten müsse. Die eigentliche Musik
wahrhaft zu geben vermöge das Clavier also nicht, sondern es suche nur
durch Andeutungen zu bezeichnen, "wie die Musik eigentlich zu denken ist".
Das letzte ist wieder ein verunglückter Ausdruck; es soll heißen: "wie die
Musik in ihrer vollkommenen Materialität sich ausnehmen würde". Das
Ideal von Tonbildung würde also für Bruno Meyer jedenfalls die Orgelpseife


Gmizbotm 1873. III. 32

anderes sei, als die bis zur Sicherheit erhobene Fertigkeit, in einem Tonstücke
jedem Tone seine besondere wohl abgewogene Stärke zu geben, der zeigt, daß
er nicht die leiseste Ahnung davon hat, was man eigentlich unter „Anschlag"
versteht. Zu welchem Zwecke suchen denn angehende Virtuosen wenigstens
einige Monate lang den Unterricht der größten Meister des Clavierspiels zu
genießen? Etwa um zu lernen, wie man ein <ZeerWccmcIo gleichmäßig auf
acht Takte vertheilt? Hat Bruno Meyer nie davon reden hören, daß Tausig
einen ganz andern Anschlag hatte, als Rubinstein, und dieser wieder einen
ganz anderen als Clara Schumann? Selbst der nüchternste Naturwissenschafter
wird, wofern er tiefere musikalische Bildung besitzt, ohne weiteres einräumen,
daß das Räthsel vom Anschlag nicht blos eine Clavierspielereinbildung ist,
daß es sich nicht dabei um Tonstärke, sondern um Tonart, nicht um quan¬
titative, sondern um qualitative Unterschiede, freilich dem Laien schwer de-
finirbare und demonstrirbare Unterschiede handelt. Thaisache ist, daß verschie¬
dene Clavierspieler ein und dasselbe Stück auf ein und demselben In¬
strumente genau in demselben Tempo, mit denselben Forte- und Piano-
Graden spielen können, und daß doch etwas verschiedenes dabei herauskommt.
Warum sagt man denn, um nur einige grobe Unterschiede herauszugreifen,
von dem einen Klavierspieler, daß er „trommle", von einem andern, daß
er >in die Tasten „steche" oder „bohre", von einem dritten, daß er „sammet¬
weich" spiele? Und wie kommt es, daß Bruno Meyer selbst sich den unbe¬
dachten Ausdruck entschlüpfen läßt und von „hartem Einsatz" redet? Wie
kommt es, daß er von Stücken spricht, die „gut gespielt" sich auf dem Clavier
„trefflich ausnehmen" ? Tonbildung und Tonstärke sind eben himmelweit
verschiedene Dinge. Das Instrument hat keine Seele, und kein Instrument
hat eine; es ist ungerecht, das Clavier als „seelenloses Instrument" den üb¬
rigen gegenüber zu stellen. Der beseelte Mensch, der Künstler, der die Taste
berührt, bildet den Ton und legt seine Seele hinein; der Ball, der aus
einer gewissen Höhe auf die Taste herabfällt, kann vielleicht gerade dieselbe
akustische Begränzung des Tones hervorrufen, wie der Finger, aber er wird
nie einen Ton „bilden".

Außer der angeblichen Bildungsunfähigkeit des Tones hält Bruno
Meyer es für eine weitere Schwäche des Claviers, daß man die angeschlagenen
Töne, während sie in der Wirklichkeit verklingen und mit jedem Zeittheilchen
schwächer werden, in der Einbildung festhalten müsse. Die eigentliche Musik
wahrhaft zu geben vermöge das Clavier also nicht, sondern es suche nur
durch Andeutungen zu bezeichnen, „wie die Musik eigentlich zu denken ist".
Das letzte ist wieder ein verunglückter Ausdruck; es soll heißen: „wie die
Musik in ihrer vollkommenen Materialität sich ausnehmen würde". Das
Ideal von Tonbildung würde also für Bruno Meyer jedenfalls die Orgelpseife


Gmizbotm 1873. III. 32
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[0257] anderes sei, als die bis zur Sicherheit erhobene Fertigkeit, in einem Tonstücke jedem Tone seine besondere wohl abgewogene Stärke zu geben, der zeigt, daß er nicht die leiseste Ahnung davon hat, was man eigentlich unter „Anschlag" versteht. Zu welchem Zwecke suchen denn angehende Virtuosen wenigstens einige Monate lang den Unterricht der größten Meister des Clavierspiels zu genießen? Etwa um zu lernen, wie man ein <ZeerWccmcIo gleichmäßig auf acht Takte vertheilt? Hat Bruno Meyer nie davon reden hören, daß Tausig einen ganz andern Anschlag hatte, als Rubinstein, und dieser wieder einen ganz anderen als Clara Schumann? Selbst der nüchternste Naturwissenschafter wird, wofern er tiefere musikalische Bildung besitzt, ohne weiteres einräumen, daß das Räthsel vom Anschlag nicht blos eine Clavierspielereinbildung ist, daß es sich nicht dabei um Tonstärke, sondern um Tonart, nicht um quan¬ titative, sondern um qualitative Unterschiede, freilich dem Laien schwer de- finirbare und demonstrirbare Unterschiede handelt. Thaisache ist, daß verschie¬ dene Clavierspieler ein und dasselbe Stück auf ein und demselben In¬ strumente genau in demselben Tempo, mit denselben Forte- und Piano- Graden spielen können, und daß doch etwas verschiedenes dabei herauskommt. Warum sagt man denn, um nur einige grobe Unterschiede herauszugreifen, von dem einen Klavierspieler, daß er „trommle", von einem andern, daß er >in die Tasten „steche" oder „bohre", von einem dritten, daß er „sammet¬ weich" spiele? Und wie kommt es, daß Bruno Meyer selbst sich den unbe¬ dachten Ausdruck entschlüpfen läßt und von „hartem Einsatz" redet? Wie kommt es, daß er von Stücken spricht, die „gut gespielt" sich auf dem Clavier „trefflich ausnehmen" ? Tonbildung und Tonstärke sind eben himmelweit verschiedene Dinge. Das Instrument hat keine Seele, und kein Instrument hat eine; es ist ungerecht, das Clavier als „seelenloses Instrument" den üb¬ rigen gegenüber zu stellen. Der beseelte Mensch, der Künstler, der die Taste berührt, bildet den Ton und legt seine Seele hinein; der Ball, der aus einer gewissen Höhe auf die Taste herabfällt, kann vielleicht gerade dieselbe akustische Begränzung des Tones hervorrufen, wie der Finger, aber er wird nie einen Ton „bilden". Außer der angeblichen Bildungsunfähigkeit des Tones hält Bruno Meyer es für eine weitere Schwäche des Claviers, daß man die angeschlagenen Töne, während sie in der Wirklichkeit verklingen und mit jedem Zeittheilchen schwächer werden, in der Einbildung festhalten müsse. Die eigentliche Musik wahrhaft zu geben vermöge das Clavier also nicht, sondern es suche nur durch Andeutungen zu bezeichnen, „wie die Musik eigentlich zu denken ist". Das letzte ist wieder ein verunglückter Ausdruck; es soll heißen: „wie die Musik in ihrer vollkommenen Materialität sich ausnehmen würde". Das Ideal von Tonbildung würde also für Bruno Meyer jedenfalls die Orgelpseife Gmizbotm 1873. III. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/257>, abgerufen am 06.02.2025.