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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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in Gefühlen und Stimmungen, von denen man leider niemals weiß, ob sie
wahr oder gemacht sind. Sein Ich ist der Mittelpunkt seiner Weltanschauung.
Es herrscht in ihm eine dämonische Eitelkeit, in der er sich und andere über
sich selbst täuscht. Nur die wilde verzehrende Genußsucht ist wahr, "ein wildes
Feuer, das verzehrt ohne zu erwärmen." Fast alle Dichter, bemerkt der Ver-
fasser, haben in ihrer Natur einen Zug, der uns mit ihrer dämonischen (Ver¬
walt versöhnt. "Bei Chateaubriand empfinden wir niemals die tröstende
Wärme der Dichtkunst. Der verzehrende Hauch seines Geistes versengt jede
Erscheinung und macht das Leben zu einer Wüste." "Sucht man für diese
sittliche Krankheit den nüchternen prosaischen Ausdruck, so findet man keinen
andern, als Größenwahnsinn."

Die romantische Restaurationsliteratur war ein Kind der Revolution,
und sie trägt in sich den Keim neuer Revolutionen. Sie erhob den Anspruch
erhaltend zu wirken und die Gesellschaft auf fester Grundlage zu erbauen;
aber sie wirkte revolutionär, weil sie in ihrem innersten Kern revolutionär
war. Mochte sie auch, wie Chateaubriand für das legitime Königthum und
für den Madonneneultus schwärmen. Das war ein wilder Taumel, der mit
den gegenwärtigen Wallfahrten auf gleicher Stufe steht. Diese Geister zu
bändigen, war Napoleon nicht stark genug. Befand er sich doch in einem
ähnlichen inneren Widerspruch, er wollte in Frankreich ein Reich der Ordnung
gründen und er selbst stieß jede Ordnung in der Welt um. Der zügellose
Eroberungstrieb, der von dem Erfolg nur zu neuen Eroberungen getrieben
wird, der kein anderes Ziel als die Weltherrschaft kennt, verträgt sich nicht
mit der Rolle des Gesetzgebers. Napoleon, der Eroberer, war durch und
durch Revolutionär, und wie Chateaubriand Revolutionär aus Selbstsucht.
"Der Dichter und der Eroberer haben nicht viel mit einander gemein, aber in
diesem Punkt (dem Größenwahnsinn) begegnen sie sich doch."

Wir können uns nicht versagen, die treffenden Worte anzuführen, mit
welchen der Verfasser die hier berührte sittliche Krankheit schildert: "Zu Zeiten
des allgemeinen Skepticismus, wo alles Feste und Allgemeine der Sitte zu
Boden getreten ist, beanspruchen die Individuen einen unverhältnißmäßigen
Werth; die sachliche Betrachtung hört auf, die Reflexion auf sich selbst endet in
einer Art Traumleben. Alle Schranken des Rechts sind morsch gewor¬
den, alles Maß des Möglichen hat sich verkehrt; jedes Gestern wird vom
Heute Lügen gestraft, das Unglaubliche erscheint das Wahrhafte. Alle über-
lieferten Göttergestalten kommen ins Fließen, als einziges Ideal bleibt die
Kraft übrig, und dieser wird ein wüster Götzendienst gewidmet. Allmächtig
zu sein und allumfassend ist der Traum jedes Individuums, das sich über
das Gemeine empor zu heben hofft.

Diesem Traum der Kraft entspricht aber selten die wirkliche Kraft, der


in Gefühlen und Stimmungen, von denen man leider niemals weiß, ob sie
wahr oder gemacht sind. Sein Ich ist der Mittelpunkt seiner Weltanschauung.
Es herrscht in ihm eine dämonische Eitelkeit, in der er sich und andere über
sich selbst täuscht. Nur die wilde verzehrende Genußsucht ist wahr, „ein wildes
Feuer, das verzehrt ohne zu erwärmen." Fast alle Dichter, bemerkt der Ver-
fasser, haben in ihrer Natur einen Zug, der uns mit ihrer dämonischen (Ver¬
walt versöhnt. „Bei Chateaubriand empfinden wir niemals die tröstende
Wärme der Dichtkunst. Der verzehrende Hauch seines Geistes versengt jede
Erscheinung und macht das Leben zu einer Wüste." „Sucht man für diese
sittliche Krankheit den nüchternen prosaischen Ausdruck, so findet man keinen
andern, als Größenwahnsinn."

Die romantische Restaurationsliteratur war ein Kind der Revolution,
und sie trägt in sich den Keim neuer Revolutionen. Sie erhob den Anspruch
erhaltend zu wirken und die Gesellschaft auf fester Grundlage zu erbauen;
aber sie wirkte revolutionär, weil sie in ihrem innersten Kern revolutionär
war. Mochte sie auch, wie Chateaubriand für das legitime Königthum und
für den Madonneneultus schwärmen. Das war ein wilder Taumel, der mit
den gegenwärtigen Wallfahrten auf gleicher Stufe steht. Diese Geister zu
bändigen, war Napoleon nicht stark genug. Befand er sich doch in einem
ähnlichen inneren Widerspruch, er wollte in Frankreich ein Reich der Ordnung
gründen und er selbst stieß jede Ordnung in der Welt um. Der zügellose
Eroberungstrieb, der von dem Erfolg nur zu neuen Eroberungen getrieben
wird, der kein anderes Ziel als die Weltherrschaft kennt, verträgt sich nicht
mit der Rolle des Gesetzgebers. Napoleon, der Eroberer, war durch und
durch Revolutionär, und wie Chateaubriand Revolutionär aus Selbstsucht.
„Der Dichter und der Eroberer haben nicht viel mit einander gemein, aber in
diesem Punkt (dem Größenwahnsinn) begegnen sie sich doch."

Wir können uns nicht versagen, die treffenden Worte anzuführen, mit
welchen der Verfasser die hier berührte sittliche Krankheit schildert: „Zu Zeiten
des allgemeinen Skepticismus, wo alles Feste und Allgemeine der Sitte zu
Boden getreten ist, beanspruchen die Individuen einen unverhältnißmäßigen
Werth; die sachliche Betrachtung hört auf, die Reflexion auf sich selbst endet in
einer Art Traumleben. Alle Schranken des Rechts sind morsch gewor¬
den, alles Maß des Möglichen hat sich verkehrt; jedes Gestern wird vom
Heute Lügen gestraft, das Unglaubliche erscheint das Wahrhafte. Alle über-
lieferten Göttergestalten kommen ins Fließen, als einziges Ideal bleibt die
Kraft übrig, und dieser wird ein wüster Götzendienst gewidmet. Allmächtig
zu sein und allumfassend ist der Traum jedes Individuums, das sich über
das Gemeine empor zu heben hofft.

Diesem Traum der Kraft entspricht aber selten die wirkliche Kraft, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/195>, abgerufen am 06.02.2025.