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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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ordnung nicht sagen: geordnet, aber -- auf verschiedene Voraussetzungen
basirt. In einigen der alten Provinzen ruhten sie aus der Grundlage des
westphälischen Friedens, in Schlesien auf den besonderen Versprechungen, welche
Friedrich der Große bei der Erwerbung gegeben hatte, in den neuen Provin¬
zen herrschte das völlige Chaos. Die Säkularisationen des lüneviller Friedens,
die Borschrift des Reichsdeputationsschlusses', die napoleonischen Staatsgrün¬
dungen waren sich hier gefolgt. Jetzt lag Alles darnieder, viele geistliche
Stellen waren unbesetzt. Wie nach Preußen und Schlesien, dort russisch-pol¬
nische, hier österreichische Sprengel hereinragten, so ragten in die Rheinlande
und Westphalen die Sprengel von Osnabrück, von Lüttich, von Metz, von
Mecheln. Innerhalb der neuen Provinzen selbst lagen die Sprengel durch die
verschiedenen, rasch auf einander gefolgten Einteilungen der älteren und der
napoleonischen Zeit unklar durcheinander und nebeneinander in unzweckmäßigen
Abtheilungen. Was sollte die preußische Negierung in dieser Lage thun?
Preußen, vor die Nothwendigkeit gestellt, sich zu verjüngen, und im Begriff,
diese Verjüngung mit dem lautersten Willen und mit einer wie nirgend auf
einer hoch entwickelten Wissenschaft beruhenden praktischem Bildung vorzuneh¬
men, war seinem Wesen nach noch immer der Staat des erleuchteten patriar¬
chalischen Regiments. Ein Glück, daß das neue Preußen dieses sein Wesen,
das kein altes genannt werden konnte, weil es nicht älter als hundert Jahr
war, nicht aufgeben konnte noch wollte. Auf diesem Wesen beruht Preußens
historische Einzigkeit und die Kraft zu seinem europäischen Beruf. Dieser
Staat also mußte die dringende Pflicht begreifen, dem Verfall des religiösen
Lebens seiner katholischen Unterthanen entgegen zu arbeiten, wie er nichts in
seinem Bereiche weder materiell noch moralisch jemals hatte verfallen lassen.
Was hätte er zur Hebung seiner katholischen Unterthanen thun können? Die
kirchlichen Dinge gehen lassen, wie sie gehen wollten, und für eine aufgeklärte
Schulbildung Sorge tragen? Mit solchen Recepten ist man heute bei der
Hand, aber sie sind auch heute noch nicht erprobt, und werden aller Voraus¬
sicht nach nie die Probe bestehen. Damals lag der Gedanke ganz fern, ja
er wäre völlig unfaßbar erschienen, für sittliche und geistige Volksbildung zu
sorgen bei gleichzeitigem Verfall oder bei fanatisch-abergläubischer Entartung
der Religion. Die ganze deutsche Aufklärung und später die idealistische Phi¬
losophie hatte an eine vergeistigte Religion gedacht, aber niemals an eine
gegen die Religion indifferente Geistesbildung. Eine solche Geistesbildung ist
die Illusion unseres Zeitalters, das, aufgelöst in Specialistik, die Idee der
Einheit des Geisteslebens verloren hat und dem es keine Schwierigkeit macht,
sich den Geist in Stücken zu denken. Hätte damals eine solche Idee in Re¬
gierungskreisen entstehen können, so wäre sie von der Bevölkerung als etwas


Grenzboten 187^!. sit. 18

ordnung nicht sagen: geordnet, aber -- auf verschiedene Voraussetzungen
basirt. In einigen der alten Provinzen ruhten sie aus der Grundlage des
westphälischen Friedens, in Schlesien auf den besonderen Versprechungen, welche
Friedrich der Große bei der Erwerbung gegeben hatte, in den neuen Provin¬
zen herrschte das völlige Chaos. Die Säkularisationen des lüneviller Friedens,
die Borschrift des Reichsdeputationsschlusses', die napoleonischen Staatsgrün¬
dungen waren sich hier gefolgt. Jetzt lag Alles darnieder, viele geistliche
Stellen waren unbesetzt. Wie nach Preußen und Schlesien, dort russisch-pol¬
nische, hier österreichische Sprengel hereinragten, so ragten in die Rheinlande
und Westphalen die Sprengel von Osnabrück, von Lüttich, von Metz, von
Mecheln. Innerhalb der neuen Provinzen selbst lagen die Sprengel durch die
verschiedenen, rasch auf einander gefolgten Einteilungen der älteren und der
napoleonischen Zeit unklar durcheinander und nebeneinander in unzweckmäßigen
Abtheilungen. Was sollte die preußische Negierung in dieser Lage thun?
Preußen, vor die Nothwendigkeit gestellt, sich zu verjüngen, und im Begriff,
diese Verjüngung mit dem lautersten Willen und mit einer wie nirgend auf
einer hoch entwickelten Wissenschaft beruhenden praktischem Bildung vorzuneh¬
men, war seinem Wesen nach noch immer der Staat des erleuchteten patriar¬
chalischen Regiments. Ein Glück, daß das neue Preußen dieses sein Wesen,
das kein altes genannt werden konnte, weil es nicht älter als hundert Jahr
war, nicht aufgeben konnte noch wollte. Auf diesem Wesen beruht Preußens
historische Einzigkeit und die Kraft zu seinem europäischen Beruf. Dieser
Staat also mußte die dringende Pflicht begreifen, dem Verfall des religiösen
Lebens seiner katholischen Unterthanen entgegen zu arbeiten, wie er nichts in
seinem Bereiche weder materiell noch moralisch jemals hatte verfallen lassen.
Was hätte er zur Hebung seiner katholischen Unterthanen thun können? Die
kirchlichen Dinge gehen lassen, wie sie gehen wollten, und für eine aufgeklärte
Schulbildung Sorge tragen? Mit solchen Recepten ist man heute bei der
Hand, aber sie sind auch heute noch nicht erprobt, und werden aller Voraus¬
sicht nach nie die Probe bestehen. Damals lag der Gedanke ganz fern, ja
er wäre völlig unfaßbar erschienen, für sittliche und geistige Volksbildung zu
sorgen bei gleichzeitigem Verfall oder bei fanatisch-abergläubischer Entartung
der Religion. Die ganze deutsche Aufklärung und später die idealistische Phi¬
losophie hatte an eine vergeistigte Religion gedacht, aber niemals an eine
gegen die Religion indifferente Geistesbildung. Eine solche Geistesbildung ist
die Illusion unseres Zeitalters, das, aufgelöst in Specialistik, die Idee der
Einheit des Geisteslebens verloren hat und dem es keine Schwierigkeit macht,
sich den Geist in Stücken zu denken. Hätte damals eine solche Idee in Re¬
gierungskreisen entstehen können, so wäre sie von der Bevölkerung als etwas


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/145>, abgerufen am 06.02.2025.