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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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der Civilstandsregister und nichts von der vervollständigenden Organisation
der Reichsämter. Wir möchten jedoch aus diesem Schweigen noch nicht
schließen, daß diese beiden Maßregeln von den Aufgaben der gegenwärtigen
Reichstagssesfion ausgeschlossen bleiben sollen.

Den Grund, weßhalb diese Session bereits neben der des Landtags er¬
öffnet worden, finden wir in der Thronrede nicht, finden ihn wenigstens nicht
kenntlich gemacht, auch wenn er vielleicht darin stehen sollte. Sehen wir uns
also in der europäischen Situation um.

Die Thronrede kündigt die baldige Räumung Frankreichs an und spricht
mit dem Ausdruck des Vertrauens von der inneren Entwickelung Frankreichs.
So zu sprechen gebietet in Bezug auf die jüngste Vergangenheit die Wahr-
heit, und in Bezug auf die nächste Zukunft gebieten es die Klugheit und die
Schicklichkeit. Ob aber im Augenblick, wo der letzte deutsche Soldat das
französische Gebiet verläßt, das französische Volk sich nicht sofort einer revo¬
lutionären und kriegerischen Regierung in die Arme wirft, welche die Reor¬
ganisation der Armee und der Finanzen für hinlänglich vorgeschritten erachtet,
um die Revanche sofort auszunehmen: das vermag kein Sterblicher zu sagen.
Also thut es Noth, daß auch wir die deutsche Kriegsverfassung, die seit der
Erneuerung des deutschen Reiches noch nicht gesetzlich abgeschlossen ist. ohne
jeden Aufschub vollenden, und daß wir das im letzten Kriege verbrauchte
Material sofort wieder ergänzen. Es hieße die Franzosen in allzu starke Ver¬
suchung führen, wenn wir bei ihnen den Glauben aufkommen ließen, sie seien
uns in den Rüstungen voraus; und das in demselben Augenblick, wo wir
für die Zahlung des Restes der Kriegsschuld nur noch eine finanzielle Garantie
in Händen haben und die für die Eröffnung eines neuen Feldzuges so wich¬
tigen territorialen Pfänder ganz oder zum größten Theil aus den Händen
gegeben haben werden.

Aber wir können die Weisheit unserer Staatsleitung nur bewundern,
welche so viel Schonung und Entgegenkommen für Frankreich zeigt. Gerecht
müssen wir dastehen und mehr als gerecht: wohlwollend und Friede suchend,
auch vor dem verblendetsten Auge, wenn der schreckliche Kampf wieder beginnt.
Und wenn es bestimmt ist, daß er wieder beginnen muß, dann je eher je
besser. Wenn Frankreich in dem Augenblick, wo es das Gefühl trinkt, wieder
Herr seiner selbst zu sein, unbesonnenen Schritten nach Innen und Außen
widersteht, so mag auch die Hoffnung befestigt erscheinen, daß wir eines länger
dauernden Friedens genießen werden, der vielleicht im Stande ist, Frankreich
die volle Besinnung zurückzugeben.


v-r.


der Civilstandsregister und nichts von der vervollständigenden Organisation
der Reichsämter. Wir möchten jedoch aus diesem Schweigen noch nicht
schließen, daß diese beiden Maßregeln von den Aufgaben der gegenwärtigen
Reichstagssesfion ausgeschlossen bleiben sollen.

Den Grund, weßhalb diese Session bereits neben der des Landtags er¬
öffnet worden, finden wir in der Thronrede nicht, finden ihn wenigstens nicht
kenntlich gemacht, auch wenn er vielleicht darin stehen sollte. Sehen wir uns
also in der europäischen Situation um.

Die Thronrede kündigt die baldige Räumung Frankreichs an und spricht
mit dem Ausdruck des Vertrauens von der inneren Entwickelung Frankreichs.
So zu sprechen gebietet in Bezug auf die jüngste Vergangenheit die Wahr-
heit, und in Bezug auf die nächste Zukunft gebieten es die Klugheit und die
Schicklichkeit. Ob aber im Augenblick, wo der letzte deutsche Soldat das
französische Gebiet verläßt, das französische Volk sich nicht sofort einer revo¬
lutionären und kriegerischen Regierung in die Arme wirft, welche die Reor¬
ganisation der Armee und der Finanzen für hinlänglich vorgeschritten erachtet,
um die Revanche sofort auszunehmen: das vermag kein Sterblicher zu sagen.
Also thut es Noth, daß auch wir die deutsche Kriegsverfassung, die seit der
Erneuerung des deutschen Reiches noch nicht gesetzlich abgeschlossen ist. ohne
jeden Aufschub vollenden, und daß wir das im letzten Kriege verbrauchte
Material sofort wieder ergänzen. Es hieße die Franzosen in allzu starke Ver¬
suchung führen, wenn wir bei ihnen den Glauben aufkommen ließen, sie seien
uns in den Rüstungen voraus; und das in demselben Augenblick, wo wir
für die Zahlung des Restes der Kriegsschuld nur noch eine finanzielle Garantie
in Händen haben und die für die Eröffnung eines neuen Feldzuges so wich¬
tigen territorialen Pfänder ganz oder zum größten Theil aus den Händen
gegeben haben werden.

Aber wir können die Weisheit unserer Staatsleitung nur bewundern,
welche so viel Schonung und Entgegenkommen für Frankreich zeigt. Gerecht
müssen wir dastehen und mehr als gerecht: wohlwollend und Friede suchend,
auch vor dem verblendetsten Auge, wenn der schreckliche Kampf wieder beginnt.
Und wenn es bestimmt ist, daß er wieder beginnen muß, dann je eher je
besser. Wenn Frankreich in dem Augenblick, wo es das Gefühl trinkt, wieder
Herr seiner selbst zu sein, unbesonnenen Schritten nach Innen und Außen
widersteht, so mag auch die Hoffnung befestigt erscheinen, daß wir eines länger
dauernden Friedens genießen werden, der vielleicht im Stande ist, Frankreich
die volle Besinnung zurückzugeben.


v-r.


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[0476] der Civilstandsregister und nichts von der vervollständigenden Organisation der Reichsämter. Wir möchten jedoch aus diesem Schweigen noch nicht schließen, daß diese beiden Maßregeln von den Aufgaben der gegenwärtigen Reichstagssesfion ausgeschlossen bleiben sollen. Den Grund, weßhalb diese Session bereits neben der des Landtags er¬ öffnet worden, finden wir in der Thronrede nicht, finden ihn wenigstens nicht kenntlich gemacht, auch wenn er vielleicht darin stehen sollte. Sehen wir uns also in der europäischen Situation um. Die Thronrede kündigt die baldige Räumung Frankreichs an und spricht mit dem Ausdruck des Vertrauens von der inneren Entwickelung Frankreichs. So zu sprechen gebietet in Bezug auf die jüngste Vergangenheit die Wahr- heit, und in Bezug auf die nächste Zukunft gebieten es die Klugheit und die Schicklichkeit. Ob aber im Augenblick, wo der letzte deutsche Soldat das französische Gebiet verläßt, das französische Volk sich nicht sofort einer revo¬ lutionären und kriegerischen Regierung in die Arme wirft, welche die Reor¬ ganisation der Armee und der Finanzen für hinlänglich vorgeschritten erachtet, um die Revanche sofort auszunehmen: das vermag kein Sterblicher zu sagen. Also thut es Noth, daß auch wir die deutsche Kriegsverfassung, die seit der Erneuerung des deutschen Reiches noch nicht gesetzlich abgeschlossen ist. ohne jeden Aufschub vollenden, und daß wir das im letzten Kriege verbrauchte Material sofort wieder ergänzen. Es hieße die Franzosen in allzu starke Ver¬ suchung führen, wenn wir bei ihnen den Glauben aufkommen ließen, sie seien uns in den Rüstungen voraus; und das in demselben Augenblick, wo wir für die Zahlung des Restes der Kriegsschuld nur noch eine finanzielle Garantie in Händen haben und die für die Eröffnung eines neuen Feldzuges so wich¬ tigen territorialen Pfänder ganz oder zum größten Theil aus den Händen gegeben haben werden. Aber wir können die Weisheit unserer Staatsleitung nur bewundern, welche so viel Schonung und Entgegenkommen für Frankreich zeigt. Gerecht müssen wir dastehen und mehr als gerecht: wohlwollend und Friede suchend, auch vor dem verblendetsten Auge, wenn der schreckliche Kampf wieder beginnt. Und wenn es bestimmt ist, daß er wieder beginnen muß, dann je eher je besser. Wenn Frankreich in dem Augenblick, wo es das Gefühl trinkt, wieder Herr seiner selbst zu sein, unbesonnenen Schritten nach Innen und Außen widersteht, so mag auch die Hoffnung befestigt erscheinen, daß wir eines länger dauernden Friedens genießen werden, der vielleicht im Stande ist, Frankreich die volle Besinnung zurückzugeben. v-r.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/476>, abgerufen am 24.08.2024.