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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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wenigstens seit 1846 eine zwar nicht sehr bedeutende, aber doch stetige Ver¬
ringerung desselben erwiesen.

Herr Bräuer sucht die Ursache des verhältnißmäßigen Rückgangs des
deutschsprechenden Volksbestandtheils vorzugsweise in der Auswanderung vieler
Juden, und wir stimmen ihm mit der Maßgabe bei, daß sie in den betreffen¬
den Jahren in viel höherem Maße stattgefunden haben mag, als sonst. Es
ist eine bekannte Thatsache, daß ihre Zahl in der Provinz seit Jahrzehnten
sich fast gar nicht vermehrt, obwohl weder Deutsche noch Polen es ihnen in
der Zahl der großgezogenen Kinder gleich thun. Aber sie wandern in großer
Menge, wenn nicht außer Landes, so doch aus der Provinz. Posener Juden
findet man in allen größern, besonders Handelsstädten Deutschlands in grö¬
ßerer oder geringerer Anzahl. Sie sind aber auch über die ganze übrige Welt
zerstreut, am zahlreichsten in Nordamerika.

Diese Schwächung des deutschen Volksbestandtheils, zu welchem die
Juden Posens wegen ihrer jetzt fast durchgängig deutschen Familiensprache
zurechnen sind, besteht jedoch noch neben einer andern, nämlich durch die
Auswanderung der eigentlichen Deutschen. Sie hat von jeher nach zwei Rich¬
tungen stattgefunden, nach Russisch-Polen und über den Ocean, am meisten nach
Nordamerika. Die letztere hat denselben Charakter, wie die Auswanderung
aus allen andern deutschen Provinzen, während die erstere sich schon immer
durch die Betheiligung von besitzlosen ländlichen Arbeitern auszeichnete, die
durch deutsche Gutsherrn auf dort angekaufte Landgüter hingezogen wurden.
Zahlreicher waren immer die Handwerker, welche jenseits der Grenze ihr Glück
suchten. Die polnischen Fabrikstädte, besonders Lody, empfingen ihre Be¬
völkerung meistens aus Schlesien. Der Verlust, den das deutsche Element im
Posenschen durch diesen Fortzug von jeher erlitt, wurde keineswegs durch
neue Zuwanderung aus dem Stammlande gedeckt, wenigstens nicht auf dem
Lande, und wenn es sich im großen und ganzen, mindestens bis 1861, stetig
verstärkt hat, so geschah das wesentlich durch den Ueberschuß der Geburten
über die Todesfälle. Bei den Polen werden zwar mindestens ebenso viele
Kinder geboren, aber es sterben von ihnen viel mehr in den ersten Jahren,
als von denen ihrer Mitbewohner anderen Stammes.

Wie bekannt, ist seit dem vorigen Jahre eineMandlung in der Auswanderung
eingetreten, welche dem Deutschthum in Posen wie in Westpreußen zu gut
kommt: nicht mehr sind es deutsche, sondern vorzugsweise polnische Losleute,
welche in größrer Anzahl nach Amerika wandern. Es ist das erste Mal, seit¬
dem es eine polnische Culturgeschichte gibt, daß der Wandertrieb bei der Masse
des Landvolks dieses Stammes erwacht. Die Erklärung liegt darin, daß
diese sich noch niemals in so gutem wirthschaftlichem Zustande befunden hat
und deßwegen in ihr noch niemals der Trieb nach fernerer Verbesserung so


wenigstens seit 1846 eine zwar nicht sehr bedeutende, aber doch stetige Ver¬
ringerung desselben erwiesen.

Herr Bräuer sucht die Ursache des verhältnißmäßigen Rückgangs des
deutschsprechenden Volksbestandtheils vorzugsweise in der Auswanderung vieler
Juden, und wir stimmen ihm mit der Maßgabe bei, daß sie in den betreffen¬
den Jahren in viel höherem Maße stattgefunden haben mag, als sonst. Es
ist eine bekannte Thatsache, daß ihre Zahl in der Provinz seit Jahrzehnten
sich fast gar nicht vermehrt, obwohl weder Deutsche noch Polen es ihnen in
der Zahl der großgezogenen Kinder gleich thun. Aber sie wandern in großer
Menge, wenn nicht außer Landes, so doch aus der Provinz. Posener Juden
findet man in allen größern, besonders Handelsstädten Deutschlands in grö¬
ßerer oder geringerer Anzahl. Sie sind aber auch über die ganze übrige Welt
zerstreut, am zahlreichsten in Nordamerika.

Diese Schwächung des deutschen Volksbestandtheils, zu welchem die
Juden Posens wegen ihrer jetzt fast durchgängig deutschen Familiensprache
zurechnen sind, besteht jedoch noch neben einer andern, nämlich durch die
Auswanderung der eigentlichen Deutschen. Sie hat von jeher nach zwei Rich¬
tungen stattgefunden, nach Russisch-Polen und über den Ocean, am meisten nach
Nordamerika. Die letztere hat denselben Charakter, wie die Auswanderung
aus allen andern deutschen Provinzen, während die erstere sich schon immer
durch die Betheiligung von besitzlosen ländlichen Arbeitern auszeichnete, die
durch deutsche Gutsherrn auf dort angekaufte Landgüter hingezogen wurden.
Zahlreicher waren immer die Handwerker, welche jenseits der Grenze ihr Glück
suchten. Die polnischen Fabrikstädte, besonders Lody, empfingen ihre Be¬
völkerung meistens aus Schlesien. Der Verlust, den das deutsche Element im
Posenschen durch diesen Fortzug von jeher erlitt, wurde keineswegs durch
neue Zuwanderung aus dem Stammlande gedeckt, wenigstens nicht auf dem
Lande, und wenn es sich im großen und ganzen, mindestens bis 1861, stetig
verstärkt hat, so geschah das wesentlich durch den Ueberschuß der Geburten
über die Todesfälle. Bei den Polen werden zwar mindestens ebenso viele
Kinder geboren, aber es sterben von ihnen viel mehr in den ersten Jahren,
als von denen ihrer Mitbewohner anderen Stammes.

Wie bekannt, ist seit dem vorigen Jahre eineMandlung in der Auswanderung
eingetreten, welche dem Deutschthum in Posen wie in Westpreußen zu gut
kommt: nicht mehr sind es deutsche, sondern vorzugsweise polnische Losleute,
welche in größrer Anzahl nach Amerika wandern. Es ist das erste Mal, seit¬
dem es eine polnische Culturgeschichte gibt, daß der Wandertrieb bei der Masse
des Landvolks dieses Stammes erwacht. Die Erklärung liegt darin, daß
diese sich noch niemals in so gutem wirthschaftlichem Zustande befunden hat
und deßwegen in ihr noch niemals der Trieb nach fernerer Verbesserung so


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[0426] wenigstens seit 1846 eine zwar nicht sehr bedeutende, aber doch stetige Ver¬ ringerung desselben erwiesen. Herr Bräuer sucht die Ursache des verhältnißmäßigen Rückgangs des deutschsprechenden Volksbestandtheils vorzugsweise in der Auswanderung vieler Juden, und wir stimmen ihm mit der Maßgabe bei, daß sie in den betreffen¬ den Jahren in viel höherem Maße stattgefunden haben mag, als sonst. Es ist eine bekannte Thatsache, daß ihre Zahl in der Provinz seit Jahrzehnten sich fast gar nicht vermehrt, obwohl weder Deutsche noch Polen es ihnen in der Zahl der großgezogenen Kinder gleich thun. Aber sie wandern in großer Menge, wenn nicht außer Landes, so doch aus der Provinz. Posener Juden findet man in allen größern, besonders Handelsstädten Deutschlands in grö¬ ßerer oder geringerer Anzahl. Sie sind aber auch über die ganze übrige Welt zerstreut, am zahlreichsten in Nordamerika. Diese Schwächung des deutschen Volksbestandtheils, zu welchem die Juden Posens wegen ihrer jetzt fast durchgängig deutschen Familiensprache zurechnen sind, besteht jedoch noch neben einer andern, nämlich durch die Auswanderung der eigentlichen Deutschen. Sie hat von jeher nach zwei Rich¬ tungen stattgefunden, nach Russisch-Polen und über den Ocean, am meisten nach Nordamerika. Die letztere hat denselben Charakter, wie die Auswanderung aus allen andern deutschen Provinzen, während die erstere sich schon immer durch die Betheiligung von besitzlosen ländlichen Arbeitern auszeichnete, die durch deutsche Gutsherrn auf dort angekaufte Landgüter hingezogen wurden. Zahlreicher waren immer die Handwerker, welche jenseits der Grenze ihr Glück suchten. Die polnischen Fabrikstädte, besonders Lody, empfingen ihre Be¬ völkerung meistens aus Schlesien. Der Verlust, den das deutsche Element im Posenschen durch diesen Fortzug von jeher erlitt, wurde keineswegs durch neue Zuwanderung aus dem Stammlande gedeckt, wenigstens nicht auf dem Lande, und wenn es sich im großen und ganzen, mindestens bis 1861, stetig verstärkt hat, so geschah das wesentlich durch den Ueberschuß der Geburten über die Todesfälle. Bei den Polen werden zwar mindestens ebenso viele Kinder geboren, aber es sterben von ihnen viel mehr in den ersten Jahren, als von denen ihrer Mitbewohner anderen Stammes. Wie bekannt, ist seit dem vorigen Jahre eineMandlung in der Auswanderung eingetreten, welche dem Deutschthum in Posen wie in Westpreußen zu gut kommt: nicht mehr sind es deutsche, sondern vorzugsweise polnische Losleute, welche in größrer Anzahl nach Amerika wandern. Es ist das erste Mal, seit¬ dem es eine polnische Culturgeschichte gibt, daß der Wandertrieb bei der Masse des Landvolks dieses Stammes erwacht. Die Erklärung liegt darin, daß diese sich noch niemals in so gutem wirthschaftlichem Zustande befunden hat und deßwegen in ihr noch niemals der Trieb nach fernerer Verbesserung so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/426>, abgerufen am 25.08.2024.