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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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den versiegenden Lebensquell derselben wieder frisch und rein hervorsprudeln
zu lassen. Aber dadurch ist der Quell nicht zu befreien, daß man dem großen
Haufen allein das Wort und Recht giebt, wodurch man allen ernstlich Denken¬
den und ernstlich Fühlenden die Theilnahme an der Kirche unmöglich macht.
Wem aufrichtig etwas liegt an der deutschen evangelischen Kirche, der hat
wohl alle Ursache, zunächst die ersten Schritte des jetzigen Cultusministers
und des jetzigen Präsidenten des Oberkirchenrathes zur Neubildung der evan¬
gelischen Kirchenverfassung abzuwarten.

Herr Virchow dagegen vertheidigte in der Sitzung vom 26. Februar trotz
der Worte des Cultusministers vom vorher gehenden Tage nochmals die
Verweigerung der Ausgaben für den Oberkirchenrath. Er wollte keine das
Land umfassenden Behörden für irgend eine Religionsgesellschaft, keine allge¬
meinen kirchlichen Behörden. Nach ihm genügt die demokratisch organisirte
kirchliche Lokalgemeinde allen Zwecken der Religion, und dafür berief sich der
Redner auf das Beispiel des Judenthums seit der Auflösung des jüdischen
Staates. Nach Herrn Virchow zeigt das Beispiel des Judenthums, daß die katho¬
lische Kirche ganz gut ohne Papst und die evangelische ohne Oberkirchenrath
würde eristiren können. Man traut seinen Ohren kaum. Das Judenthum
-- wer wüßte das nicht? -- war nicht eine bloße Glaubensrichtung, sondern
eine Nationalität, und zwar eine bei allen Völkern, in deren Mitte es sich
niederließ, unterdrückte und hart behandelte Nationalität. In seinem Glauben
fand das Judenthum nicht nur den Schutz seiner Nationalität, sondern auch das
Mittel einer besonderen socialen Organisation, die ihm aufgedrungen wurde,
weil es nirgend, bis auf die jüngste Gegenwart herab, das Bürgerrecht der
Einheimischen erlangen konnte. Und weil unter diesen seltensten Verhält¬
nissen der jüdische Glaube ohne einen den Staatsbehörden coordinirten. in
die Augen fallenden centralen Amtsorganismus sich behauptet hat, daraus
schließt Herr Virchow, dasselbe werde der Fall sein mit jeder anderen Glau¬
bensrichtung, welche nicht gleichzeitig vom Raceninstinkt und von dem Be¬
dürfniß socialer Nothwehr getragen wird? Mit solchen elenden Gründen,
für deren Werthlosigkeit es keinen parlamentarischen Ausdruck giebt, behandelt
dieser Redner die folgenschwersten Fragen.

Ja, der katholischen Kirche braucht man keine Organisation zu geben, da
sie die stärkste besitzt, die je auf religiösem Boden entsprungen. Aber die
evangelische Kirche hat von ihrem Ursprung an kein anderes Centralorgan ge¬
habt, als den modernen Staat. Vielleicht -- wir wissen es nicht und wollen
es nicht behaupten -- aber vielleicht antwortet Herr Virchow mit seinen Gleich¬
gesinnten: so mag die evangelische Kirche zu Grunde gehen! Aber wer etwas
von den Bedingungen des sittlichen Lebens versteht, weiß, daß mit dieser
Kirche nichts Geringeres, als die entdeckte Wurzel der wahren Sittlichkeit für


den versiegenden Lebensquell derselben wieder frisch und rein hervorsprudeln
zu lassen. Aber dadurch ist der Quell nicht zu befreien, daß man dem großen
Haufen allein das Wort und Recht giebt, wodurch man allen ernstlich Denken¬
den und ernstlich Fühlenden die Theilnahme an der Kirche unmöglich macht.
Wem aufrichtig etwas liegt an der deutschen evangelischen Kirche, der hat
wohl alle Ursache, zunächst die ersten Schritte des jetzigen Cultusministers
und des jetzigen Präsidenten des Oberkirchenrathes zur Neubildung der evan¬
gelischen Kirchenverfassung abzuwarten.

Herr Virchow dagegen vertheidigte in der Sitzung vom 26. Februar trotz
der Worte des Cultusministers vom vorher gehenden Tage nochmals die
Verweigerung der Ausgaben für den Oberkirchenrath. Er wollte keine das
Land umfassenden Behörden für irgend eine Religionsgesellschaft, keine allge¬
meinen kirchlichen Behörden. Nach ihm genügt die demokratisch organisirte
kirchliche Lokalgemeinde allen Zwecken der Religion, und dafür berief sich der
Redner auf das Beispiel des Judenthums seit der Auflösung des jüdischen
Staates. Nach Herrn Virchow zeigt das Beispiel des Judenthums, daß die katho¬
lische Kirche ganz gut ohne Papst und die evangelische ohne Oberkirchenrath
würde eristiren können. Man traut seinen Ohren kaum. Das Judenthum
— wer wüßte das nicht? — war nicht eine bloße Glaubensrichtung, sondern
eine Nationalität, und zwar eine bei allen Völkern, in deren Mitte es sich
niederließ, unterdrückte und hart behandelte Nationalität. In seinem Glauben
fand das Judenthum nicht nur den Schutz seiner Nationalität, sondern auch das
Mittel einer besonderen socialen Organisation, die ihm aufgedrungen wurde,
weil es nirgend, bis auf die jüngste Gegenwart herab, das Bürgerrecht der
Einheimischen erlangen konnte. Und weil unter diesen seltensten Verhält¬
nissen der jüdische Glaube ohne einen den Staatsbehörden coordinirten. in
die Augen fallenden centralen Amtsorganismus sich behauptet hat, daraus
schließt Herr Virchow, dasselbe werde der Fall sein mit jeder anderen Glau¬
bensrichtung, welche nicht gleichzeitig vom Raceninstinkt und von dem Be¬
dürfniß socialer Nothwehr getragen wird? Mit solchen elenden Gründen,
für deren Werthlosigkeit es keinen parlamentarischen Ausdruck giebt, behandelt
dieser Redner die folgenschwersten Fragen.

Ja, der katholischen Kirche braucht man keine Organisation zu geben, da
sie die stärkste besitzt, die je auf religiösem Boden entsprungen. Aber die
evangelische Kirche hat von ihrem Ursprung an kein anderes Centralorgan ge¬
habt, als den modernen Staat. Vielleicht — wir wissen es nicht und wollen
es nicht behaupten — aber vielleicht antwortet Herr Virchow mit seinen Gleich¬
gesinnten: so mag die evangelische Kirche zu Grunde gehen! Aber wer etwas
von den Bedingungen des sittlichen Lebens versteht, weiß, daß mit dieser
Kirche nichts Geringeres, als die entdeckte Wurzel der wahren Sittlichkeit für


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/405>, abgerufen am 25.08.2024.