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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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vorübergehenden Zerstörung zu genießen. Bildung wäre die Fähigkeit, aus
Allem den wahren Genuß zu schöpfen.

Was aber die deutschen Theater anlangt, die im jetzigen Augenblick
durch ihre Bemühungen um neue Erzeugnisse des französischen Dramas den
dortigen Autoren Gelegenheit zu Insolenzen gegen Deutschland geben, so ist
ihr Verhalten doch, milde ausgedrückt, ein Beweis, wie fern uns noch der
Gedanke steht, einer großen Nation anzuhören, deren Glieder für die Ehre
der Nation mit verantwortlich find, Wie tröstlich muß den Franzosen die
Ueberzeugung sein, die sie aus den Anliegen der deutschen Theater schöpfen,
daß Deutschland in Kunst und Literatur nach wie vor von ihnen abhängt.
Sie getrösten sich, daß der Sieg Deutschland keinen Segen der Poesie bescheert
hat, und daß die Noth um Früchte des Geistes so groß ist, daß selbst der
Stolz des Sieges die Deutschen nicht abhalten kann, um poetische Nahrung
sich nach Paris zu wenden. Es ist sicherlich ein falscher Schluß, den die
Franzosen aus den Erscheinungen deutscher Theaterindustrie ziehen, aber ver¬
argen kann man ihnen denselben nicht, und es wäre nicht leicht, ihnen be¬
greiflich zu machen, wieso ihre Annahme der Schwäche unserer Literatur falsch
ist. Für uns Deutsche wird es dagegen sehr gut sein, wenn wir ohne un¬
nöthige moralische Entrüstung gegen einzelne Erscheinungen uns die Ursachen
dieses Zustandes klar machen.

Wollen wir leugnen, daß unsere Kunst hinter den Leistungen der Staats¬
und Kriegskunst auffällig zurückbleibt? Bis jetzt haben die Franzosen aus
ihrem Unglück mehr künstlerische Nahrung gezogen, als wir aus unserm Glück.
Denkt man sich Erfolge wie die unseren auf französischer Seite, so wäre dort
die Kunst noch weniger zurückgeblieben, und wenn ihren Schöpfungen an
Wahrheit und Tiefe des Gehaltes das Höchste gebrochen hätte, Geist, Schwung
und Pracht hätten sie nicht vermissen lassen, so wenig wie an den rechten
Stellen Grazie und Humor. Und lassen wir Staat und Krieg bei Seite,
deren unmittelbare Erscheinung immer ein spröder Stoff für die Kunst
bleibt. Aber der Sieg hat bereits große sociale Folgen gehabt. Wie wären
die Franzosen bei der Hand, eine Erscheinung, wie die des Gründerthums für
das Theater auszubeuten, von der Posse bis zum feinen Lustspiel und auch
bis zum ernsten Drama, worin sich die Tugend zu Tisch setzt, wenn sich das
Laster erbricht. Dieses Drama ist ja keine hohe Kunstgattung, aber voll von
Einzelheiten, die geistreich ergriffen sind aus dem Leben und der Wahrheit,
läßt sich auch diese Gattung des Drama in den Kauf nehmen. Und sollen
wir noch Worte verlieren über den Werth, den solche Gegenüberstellung seines
Lebens für ein Boll hat?

Kehren wir zurück zu der Frage, warum uns das Alles fehlt, da wir doch
Grund zu haben glauben, uns für ideenreich und poetisch tief beanlagt zu


vorübergehenden Zerstörung zu genießen. Bildung wäre die Fähigkeit, aus
Allem den wahren Genuß zu schöpfen.

Was aber die deutschen Theater anlangt, die im jetzigen Augenblick
durch ihre Bemühungen um neue Erzeugnisse des französischen Dramas den
dortigen Autoren Gelegenheit zu Insolenzen gegen Deutschland geben, so ist
ihr Verhalten doch, milde ausgedrückt, ein Beweis, wie fern uns noch der
Gedanke steht, einer großen Nation anzuhören, deren Glieder für die Ehre
der Nation mit verantwortlich find, Wie tröstlich muß den Franzosen die
Ueberzeugung sein, die sie aus den Anliegen der deutschen Theater schöpfen,
daß Deutschland in Kunst und Literatur nach wie vor von ihnen abhängt.
Sie getrösten sich, daß der Sieg Deutschland keinen Segen der Poesie bescheert
hat, und daß die Noth um Früchte des Geistes so groß ist, daß selbst der
Stolz des Sieges die Deutschen nicht abhalten kann, um poetische Nahrung
sich nach Paris zu wenden. Es ist sicherlich ein falscher Schluß, den die
Franzosen aus den Erscheinungen deutscher Theaterindustrie ziehen, aber ver¬
argen kann man ihnen denselben nicht, und es wäre nicht leicht, ihnen be¬
greiflich zu machen, wieso ihre Annahme der Schwäche unserer Literatur falsch
ist. Für uns Deutsche wird es dagegen sehr gut sein, wenn wir ohne un¬
nöthige moralische Entrüstung gegen einzelne Erscheinungen uns die Ursachen
dieses Zustandes klar machen.

Wollen wir leugnen, daß unsere Kunst hinter den Leistungen der Staats¬
und Kriegskunst auffällig zurückbleibt? Bis jetzt haben die Franzosen aus
ihrem Unglück mehr künstlerische Nahrung gezogen, als wir aus unserm Glück.
Denkt man sich Erfolge wie die unseren auf französischer Seite, so wäre dort
die Kunst noch weniger zurückgeblieben, und wenn ihren Schöpfungen an
Wahrheit und Tiefe des Gehaltes das Höchste gebrochen hätte, Geist, Schwung
und Pracht hätten sie nicht vermissen lassen, so wenig wie an den rechten
Stellen Grazie und Humor. Und lassen wir Staat und Krieg bei Seite,
deren unmittelbare Erscheinung immer ein spröder Stoff für die Kunst
bleibt. Aber der Sieg hat bereits große sociale Folgen gehabt. Wie wären
die Franzosen bei der Hand, eine Erscheinung, wie die des Gründerthums für
das Theater auszubeuten, von der Posse bis zum feinen Lustspiel und auch
bis zum ernsten Drama, worin sich die Tugend zu Tisch setzt, wenn sich das
Laster erbricht. Dieses Drama ist ja keine hohe Kunstgattung, aber voll von
Einzelheiten, die geistreich ergriffen sind aus dem Leben und der Wahrheit,
läßt sich auch diese Gattung des Drama in den Kauf nehmen. Und sollen
wir noch Worte verlieren über den Werth, den solche Gegenüberstellung seines
Lebens für ein Boll hat?

Kehren wir zurück zu der Frage, warum uns das Alles fehlt, da wir doch
Grund zu haben glauben, uns für ideenreich und poetisch tief beanlagt zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/37>, abgerufen am 22.07.2024.