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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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erhalten wird, und während dieser Zeit sinkt Alles, was der Wein an
unklaren Stoff enthält, auf den Boden der Flasche. Dann bringt man die
Flaschen nach dem Kunstausdruck "sur xointe", d. h. mit den Hälsen sanft
abwärts geneigt, auf Gestelle. Später bekommen sie eine stärkere Neigung
und werden jeden Tag leise geschüttelt, wobei ein Arbeiter, der besonderes
Geschick im Handgelenk hat, zwischen dreißig und vierzigtausend per Tag zu
schütteln vermag. Der Zweck dieser Bewegung, welche Madame Clicquot
an die Stelle eines viel langsameren Verfahrens setzte, ist der, daß man den
Satz nöthigen will, sich nach dem Kork hinzuziehen, statt sich an die Seiten
abzulagern und entweder Faden, technisch "Klauen", oder eine Bekleidung
des Glases, technisch eine "Maske", zu bilden, Ablagerungen, die sich nur
schwer entfernen lassen. Will man sie loslösen, so muß man an die Stelle
wo das Sediment sich angesetzt hat, mit einem Stück Eisen hart anschlagen,
und dabei läuft man stets Gefahr, die Flasche zum Platzen zu bringen, wes¬
halb der mit dieser Aufgabe betraute Arbeiter das Gesicht mit einer Draht¬
maske schützt. In dieser seiner Lebensperiode ist der Wein auch anderen Un¬
päßlichkeiten ausgesetzt -- im Champagnergeschäft herrscht eine vollständige
Wein-Pathologie -- deren schlimmste die Bildung pilzartiger Fibern ist, die
sehr schwer oder gar nicht zu beseitigen sind, und welche durch Mangel an
Tannin entstehen, das deshalb bei der Mischung der Weine vermöge Ein¬
führung eines künstlichen Substituts aus Eicheln oder Katechu zugesetzt
werden sollte.

Wenn das Sediment sich endlich gehörig am Kork angesammelt hat, was
innerhalb einer Zeit von sechs Wochen zu geschehen pflegt, werden die Flaschen
mit abwärts gekehrten Hälsen sorgfältig in Körbe gelegt und vermittelst eines
Seits durch eine viereckige Oeffnung im Gewölbe des untern Kellers nach
dem obern befördert, wo ein Verfahren beginnt, welches man das "äSZoi-
gemeut" nennt. Nachdem die Körbe neben den hiermit beauftragten Arbeiter
gestellt sind, der vor einem überdeckten Gefäße steht, das einem kleinen radikal
in zwei Hälften zerschnittenen Fasse gleicht und am Boden eine Art Reservoir
hat, faßt er eine Flasche mit seiner linken Hand und prüft sie gegen das
Licht hin. Dann dreht er ihren Hals abwärts nach dem Reservoir, und
lockert mit einem plötzlichen Ruck vermöge des Stahlhakens in seiner rechten
Hand das Eisenbart oder die "Agraffe", welche den Kork festhält, der nun
mit lautem Knall wegfliegt, gefolgt von dem Sediment und schäumendem,
spritzenden Wein, den der Degorgeur mit seinem Daumen aufhält, nachdem
er die Flasche nach vorn und rückwärts hat schaukeln lassen, um jedes Rest¬
chen von Satz aus dem Flaschenhalse zu spülen. Dann stöpselt er rasch die
Flasche wieder mit einem schon vorher gebrauchten, gut passenden Kork, wo¬
rauf er sie einem neben ihm stehenden Gefährten giebt, der ihr das zu ertheilen


erhalten wird, und während dieser Zeit sinkt Alles, was der Wein an
unklaren Stoff enthält, auf den Boden der Flasche. Dann bringt man die
Flaschen nach dem Kunstausdruck „sur xointe", d. h. mit den Hälsen sanft
abwärts geneigt, auf Gestelle. Später bekommen sie eine stärkere Neigung
und werden jeden Tag leise geschüttelt, wobei ein Arbeiter, der besonderes
Geschick im Handgelenk hat, zwischen dreißig und vierzigtausend per Tag zu
schütteln vermag. Der Zweck dieser Bewegung, welche Madame Clicquot
an die Stelle eines viel langsameren Verfahrens setzte, ist der, daß man den
Satz nöthigen will, sich nach dem Kork hinzuziehen, statt sich an die Seiten
abzulagern und entweder Faden, technisch „Klauen", oder eine Bekleidung
des Glases, technisch eine „Maske", zu bilden, Ablagerungen, die sich nur
schwer entfernen lassen. Will man sie loslösen, so muß man an die Stelle
wo das Sediment sich angesetzt hat, mit einem Stück Eisen hart anschlagen,
und dabei läuft man stets Gefahr, die Flasche zum Platzen zu bringen, wes¬
halb der mit dieser Aufgabe betraute Arbeiter das Gesicht mit einer Draht¬
maske schützt. In dieser seiner Lebensperiode ist der Wein auch anderen Un¬
päßlichkeiten ausgesetzt — im Champagnergeschäft herrscht eine vollständige
Wein-Pathologie — deren schlimmste die Bildung pilzartiger Fibern ist, die
sehr schwer oder gar nicht zu beseitigen sind, und welche durch Mangel an
Tannin entstehen, das deshalb bei der Mischung der Weine vermöge Ein¬
führung eines künstlichen Substituts aus Eicheln oder Katechu zugesetzt
werden sollte.

Wenn das Sediment sich endlich gehörig am Kork angesammelt hat, was
innerhalb einer Zeit von sechs Wochen zu geschehen pflegt, werden die Flaschen
mit abwärts gekehrten Hälsen sorgfältig in Körbe gelegt und vermittelst eines
Seits durch eine viereckige Oeffnung im Gewölbe des untern Kellers nach
dem obern befördert, wo ein Verfahren beginnt, welches man das „äSZoi-
gemeut" nennt. Nachdem die Körbe neben den hiermit beauftragten Arbeiter
gestellt sind, der vor einem überdeckten Gefäße steht, das einem kleinen radikal
in zwei Hälften zerschnittenen Fasse gleicht und am Boden eine Art Reservoir
hat, faßt er eine Flasche mit seiner linken Hand und prüft sie gegen das
Licht hin. Dann dreht er ihren Hals abwärts nach dem Reservoir, und
lockert mit einem plötzlichen Ruck vermöge des Stahlhakens in seiner rechten
Hand das Eisenbart oder die „Agraffe", welche den Kork festhält, der nun
mit lautem Knall wegfliegt, gefolgt von dem Sediment und schäumendem,
spritzenden Wein, den der Degorgeur mit seinem Daumen aufhält, nachdem
er die Flasche nach vorn und rückwärts hat schaukeln lassen, um jedes Rest¬
chen von Satz aus dem Flaschenhalse zu spülen. Dann stöpselt er rasch die
Flasche wieder mit einem schon vorher gebrauchten, gut passenden Kork, wo¬
rauf er sie einem neben ihm stehenden Gefährten giebt, der ihr das zu ertheilen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/303>, abgerufen am 24.08.2024.