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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Warum das Alles nicht? Weil nur ein durch Eroberungen und Ueber¬
gewicht in Deutschland verstärktes Frankreich den erforderlichen Druck und die
erforderliche Anziehung zu solchen Combinationen auf die kleineren Seemächte:
Italien, Holland, Scandinavien und ein leicht alfonsistisch zu gestaltendes
Spanien ausübt; weil nur ein solches Frankreich das Unternehmen einer
Landung in England wagen könnte, nur ein solches über die Kräfte verfügt,
damit zu drohen.

Man kann die Stellung, welche Frankreich einnimmt, je nachdem es ein
selbständiges Deutschland zum Nachbar oder seinerseits das Uebergewicht in
Deutschland erobert hat, durch eine mathematisch-geographische Formel ver¬
deutlichen. Deutschland liegt im Centrum Europas, von mächtigen Gliedern
Peripherisch umgeben. Bemächtigt eins dieser Glieder sich des Centrums, so
bedroht es und beherrscht nahezu alle andern. Ist das Centrum selbstän¬
dig, so bleiben die Gegensätze der peripherischen Mächte auf deren unmittelbare
Verührungssphäre beschränkt. Wenn die gemeinsame Berührungssphäre Aller,
das Centrum, neutral und unantastbar bleibt, so können die Conflikte der
Peripherischen Mächte niemals die Ruhe des ganzen Welttheils beeinträchtigen.

Von seiner zugleich peripherischen und centralen Stellung aus beun¬
ruhigte und insültirte Napoleon I. unaufhörlich ganz Europa. Sein Nach¬
folger würde dieselbe Stellung vorsichtiger ausgebeutet haben. Er würde nicht
alle Welt zugleich bedroht und würde jederzeit auf eine kluge, nicht gewalt¬
same Combination verschiedener Mächte um Frankreich herum Bedacht genom¬
men haben. Um so schwerer wäre diese Stellung zu erschüttern gewesen.
Wer die Geschichte der Jahre 1812--1815 studirt hat, weiß, wie unend¬
lich schwer es gewesen, die Einigung gegen die Tyrannei, die doch auf allen
Nächten unerträglich lastete, zu Stande zu bringen. Wie waren die russischen
Heerführer im Anfang des Jahres 1813 abgeneigt, den Krieg außerhalb der
Grenzen Rußlands fortzusetzen; sie hätten sich gern mit einigen Concessionen
'in Orient und in Polen begnügt. Das ganze Jahr mußte vergehen, ehe
Oesterreich dem preußisch-russischen Bündniß gegen Napoleon beitrat. So groß
Mar dort die Befürchtung, sich andere Nebenbuhler groß zu ziehen. Die in
der Coalition bestehenden Rivalitäten drohten mehr als einmal, den ganzen
Zweck des Krieges zu vereiteln. Ohne die beispiellose Hingebung des preu¬
ßischen Volks und das Genie seiner Heerführer, ohne den Einfluß Steins auf
Alexander I. wäre der Zweck nie erreicht worden.

Und nun gedenken wir noch mit einer Silbe der thörichten Behauptung,
als sei durch Deutschlands Consolidation die Selbständigkeit Europas bedroht.
Als ob das Centrum nicht immer der Gefahr ausgesetzt wäre, die Mächte
der Peripherie gegen sich zu vereinigen! Als ob diese Gefahr ihm nicht die
größte Zurückhaltung auflegte, selbst wenn es zu einer ehrgeizigen Politik
"eignet wäre! Und ob das deutsche Volk wohl die Anlage zu einer solchen


Warum das Alles nicht? Weil nur ein durch Eroberungen und Ueber¬
gewicht in Deutschland verstärktes Frankreich den erforderlichen Druck und die
erforderliche Anziehung zu solchen Combinationen auf die kleineren Seemächte:
Italien, Holland, Scandinavien und ein leicht alfonsistisch zu gestaltendes
Spanien ausübt; weil nur ein solches Frankreich das Unternehmen einer
Landung in England wagen könnte, nur ein solches über die Kräfte verfügt,
damit zu drohen.

Man kann die Stellung, welche Frankreich einnimmt, je nachdem es ein
selbständiges Deutschland zum Nachbar oder seinerseits das Uebergewicht in
Deutschland erobert hat, durch eine mathematisch-geographische Formel ver¬
deutlichen. Deutschland liegt im Centrum Europas, von mächtigen Gliedern
Peripherisch umgeben. Bemächtigt eins dieser Glieder sich des Centrums, so
bedroht es und beherrscht nahezu alle andern. Ist das Centrum selbstän¬
dig, so bleiben die Gegensätze der peripherischen Mächte auf deren unmittelbare
Verührungssphäre beschränkt. Wenn die gemeinsame Berührungssphäre Aller,
das Centrum, neutral und unantastbar bleibt, so können die Conflikte der
Peripherischen Mächte niemals die Ruhe des ganzen Welttheils beeinträchtigen.

Von seiner zugleich peripherischen und centralen Stellung aus beun¬
ruhigte und insültirte Napoleon I. unaufhörlich ganz Europa. Sein Nach¬
folger würde dieselbe Stellung vorsichtiger ausgebeutet haben. Er würde nicht
alle Welt zugleich bedroht und würde jederzeit auf eine kluge, nicht gewalt¬
same Combination verschiedener Mächte um Frankreich herum Bedacht genom¬
men haben. Um so schwerer wäre diese Stellung zu erschüttern gewesen.
Wer die Geschichte der Jahre 1812—1815 studirt hat, weiß, wie unend¬
lich schwer es gewesen, die Einigung gegen die Tyrannei, die doch auf allen
Nächten unerträglich lastete, zu Stande zu bringen. Wie waren die russischen
Heerführer im Anfang des Jahres 1813 abgeneigt, den Krieg außerhalb der
Grenzen Rußlands fortzusetzen; sie hätten sich gern mit einigen Concessionen
'in Orient und in Polen begnügt. Das ganze Jahr mußte vergehen, ehe
Oesterreich dem preußisch-russischen Bündniß gegen Napoleon beitrat. So groß
Mar dort die Befürchtung, sich andere Nebenbuhler groß zu ziehen. Die in
der Coalition bestehenden Rivalitäten drohten mehr als einmal, den ganzen
Zweck des Krieges zu vereiteln. Ohne die beispiellose Hingebung des preu¬
ßischen Volks und das Genie seiner Heerführer, ohne den Einfluß Steins auf
Alexander I. wäre der Zweck nie erreicht worden.

Und nun gedenken wir noch mit einer Silbe der thörichten Behauptung,
als sei durch Deutschlands Consolidation die Selbständigkeit Europas bedroht.
Als ob das Centrum nicht immer der Gefahr ausgesetzt wäre, die Mächte
der Peripherie gegen sich zu vereinigen! Als ob diese Gefahr ihm nicht die
größte Zurückhaltung auflegte, selbst wenn es zu einer ehrgeizigen Politik
«eignet wäre! Und ob das deutsche Volk wohl die Anlage zu einer solchen


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[0287] Warum das Alles nicht? Weil nur ein durch Eroberungen und Ueber¬ gewicht in Deutschland verstärktes Frankreich den erforderlichen Druck und die erforderliche Anziehung zu solchen Combinationen auf die kleineren Seemächte: Italien, Holland, Scandinavien und ein leicht alfonsistisch zu gestaltendes Spanien ausübt; weil nur ein solches Frankreich das Unternehmen einer Landung in England wagen könnte, nur ein solches über die Kräfte verfügt, damit zu drohen. Man kann die Stellung, welche Frankreich einnimmt, je nachdem es ein selbständiges Deutschland zum Nachbar oder seinerseits das Uebergewicht in Deutschland erobert hat, durch eine mathematisch-geographische Formel ver¬ deutlichen. Deutschland liegt im Centrum Europas, von mächtigen Gliedern Peripherisch umgeben. Bemächtigt eins dieser Glieder sich des Centrums, so bedroht es und beherrscht nahezu alle andern. Ist das Centrum selbstän¬ dig, so bleiben die Gegensätze der peripherischen Mächte auf deren unmittelbare Verührungssphäre beschränkt. Wenn die gemeinsame Berührungssphäre Aller, das Centrum, neutral und unantastbar bleibt, so können die Conflikte der Peripherischen Mächte niemals die Ruhe des ganzen Welttheils beeinträchtigen. Von seiner zugleich peripherischen und centralen Stellung aus beun¬ ruhigte und insültirte Napoleon I. unaufhörlich ganz Europa. Sein Nach¬ folger würde dieselbe Stellung vorsichtiger ausgebeutet haben. Er würde nicht alle Welt zugleich bedroht und würde jederzeit auf eine kluge, nicht gewalt¬ same Combination verschiedener Mächte um Frankreich herum Bedacht genom¬ men haben. Um so schwerer wäre diese Stellung zu erschüttern gewesen. Wer die Geschichte der Jahre 1812—1815 studirt hat, weiß, wie unend¬ lich schwer es gewesen, die Einigung gegen die Tyrannei, die doch auf allen Nächten unerträglich lastete, zu Stande zu bringen. Wie waren die russischen Heerführer im Anfang des Jahres 1813 abgeneigt, den Krieg außerhalb der Grenzen Rußlands fortzusetzen; sie hätten sich gern mit einigen Concessionen 'in Orient und in Polen begnügt. Das ganze Jahr mußte vergehen, ehe Oesterreich dem preußisch-russischen Bündniß gegen Napoleon beitrat. So groß Mar dort die Befürchtung, sich andere Nebenbuhler groß zu ziehen. Die in der Coalition bestehenden Rivalitäten drohten mehr als einmal, den ganzen Zweck des Krieges zu vereiteln. Ohne die beispiellose Hingebung des preu¬ ßischen Volks und das Genie seiner Heerführer, ohne den Einfluß Steins auf Alexander I. wäre der Zweck nie erreicht worden. Und nun gedenken wir noch mit einer Silbe der thörichten Behauptung, als sei durch Deutschlands Consolidation die Selbständigkeit Europas bedroht. Als ob das Centrum nicht immer der Gefahr ausgesetzt wäre, die Mächte der Peripherie gegen sich zu vereinigen! Als ob diese Gefahr ihm nicht die größte Zurückhaltung auflegte, selbst wenn es zu einer ehrgeizigen Politik «eignet wäre! Und ob das deutsche Volk wohl die Anlage zu einer solchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/287>, abgerufen am 25.06.2024.