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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Wickelung in erster Reihe Dr. Zestermann und Dr. Hildebrand zu nennen sind.
War Ersterer, der mit liebevollem Verständnisse auf die Individualität jedes
Schülers einging, dem leidenschaftlichen Jüngling ein Vorbild edler Stetigkeit
und Treue,, so regte Letzterer, jetzt weltbekannt als Bearbeiter des Grimm'schen
Wörterbuches, mit seinem glühenden Eifer für den Cultus des Ideals, mit
seiner Begeisterung für die Poesie und ihre Meisterwerke in Türschmann das
poetische Gefühl so mächtig an, daß dieser über seinen Beruf zur Kunst schon
in Tertia zur Gewißheit kam.

Im Verein mit einigen gleichgesinnten Genossen hatte Türschmann schon
während der Gymnasialzeit neben den classischen Studien eifrigst das Studium
Shakespeare's und der deutschen Literatur betrieben. Diese Arbeit wurde auf
der Universität mit größerer Freiheit und erhöhter Lebhaftigkeit fortgesetzt,
gleichzeitig aber in der Kunstgeschichte und dem Studium der antiken Sculp-
turen eine Quelle neuer Kunstanschauungen erworben.

Inzwischen war Türschmann zu der Ueberzeugung gelangt, daß seine
künstlerische Befähigung nur auf der Bühne sich bethätigen könne, und er
ging deshalb an die für einen Sachsen unendlich schwierige Aufgabe, zunächst
-- sprechen zu lernen. Es mag gerechtfertigt sein, wenn Nichtsachsen dem
sächsischen Idiom den Vorzug der Gemüthlichkeit nachrühmen und mit behag¬
lichem Lächeln seinen Klängen lauschen. Jedenfalls ist es einem angehenden
Bühnenkünstler die schlimmste Mitgift, gefährlich besonders deßhalb, weil es
dem mit ihm Begabten mit einer Zähigkeit anzuhaften pflegt, daß es nur
überwinden kann, wer sich seine Beseitigung zur Lebensaufgabe macht. Aber
hierin liegt für den Siegreichen auch der Gewinn, denn die Ueberwindung der
technischen Schwierigkeit führt nothwendig zur Vertiefung des sprachlichen
Studiums überhaupt. Indem Türschmann, allerdings nach langjähriger Mühe,
von dem sächsischen Dialect sich befreite, errang er nicht nur eine völlig dialect-
freie Sprache, sondern gelangte auch zu einer Präcision der Lautgebung, wie
sie nur wenigen nichtsächsischen Schauspielern eigen ist.

Nach einer Sturm- und Drangperiode, wie sie fast jeder Bühnenkünstler
zu bestehen hat, während der er an verschiedenen kleineren und größeren
Theatern wirkte, fand er beim Hoftheater in Braunschweig eine bleibende
Stätte und als erster Charakterdarsteller äußere Vollendung. Damit aber
zugleich Gelegenheit, sich des Gegensatzes bewußt zu werden, in welchem er
sich zu dem auf das Aeußere gerichteten Streben der heutigen Bühne befand.
Unsere Theater, auch die Hofbühnen, haben unendlich wenig Raum für die
ideale Gestaltung und gerade in ihr, dessen war Türschmann sich wohl bewußt,
lag seine Bedeutung.

In der Stille eines Sommeraufenthaltes in Sachsen kam er zu dem
Entschlüsse, die Bühne zu verlassen und fand gleichzeitig sein eigentliches Ge-


Wickelung in erster Reihe Dr. Zestermann und Dr. Hildebrand zu nennen sind.
War Ersterer, der mit liebevollem Verständnisse auf die Individualität jedes
Schülers einging, dem leidenschaftlichen Jüngling ein Vorbild edler Stetigkeit
und Treue,, so regte Letzterer, jetzt weltbekannt als Bearbeiter des Grimm'schen
Wörterbuches, mit seinem glühenden Eifer für den Cultus des Ideals, mit
seiner Begeisterung für die Poesie und ihre Meisterwerke in Türschmann das
poetische Gefühl so mächtig an, daß dieser über seinen Beruf zur Kunst schon
in Tertia zur Gewißheit kam.

Im Verein mit einigen gleichgesinnten Genossen hatte Türschmann schon
während der Gymnasialzeit neben den classischen Studien eifrigst das Studium
Shakespeare's und der deutschen Literatur betrieben. Diese Arbeit wurde auf
der Universität mit größerer Freiheit und erhöhter Lebhaftigkeit fortgesetzt,
gleichzeitig aber in der Kunstgeschichte und dem Studium der antiken Sculp-
turen eine Quelle neuer Kunstanschauungen erworben.

Inzwischen war Türschmann zu der Ueberzeugung gelangt, daß seine
künstlerische Befähigung nur auf der Bühne sich bethätigen könne, und er
ging deshalb an die für einen Sachsen unendlich schwierige Aufgabe, zunächst
— sprechen zu lernen. Es mag gerechtfertigt sein, wenn Nichtsachsen dem
sächsischen Idiom den Vorzug der Gemüthlichkeit nachrühmen und mit behag¬
lichem Lächeln seinen Klängen lauschen. Jedenfalls ist es einem angehenden
Bühnenkünstler die schlimmste Mitgift, gefährlich besonders deßhalb, weil es
dem mit ihm Begabten mit einer Zähigkeit anzuhaften pflegt, daß es nur
überwinden kann, wer sich seine Beseitigung zur Lebensaufgabe macht. Aber
hierin liegt für den Siegreichen auch der Gewinn, denn die Ueberwindung der
technischen Schwierigkeit führt nothwendig zur Vertiefung des sprachlichen
Studiums überhaupt. Indem Türschmann, allerdings nach langjähriger Mühe,
von dem sächsischen Dialect sich befreite, errang er nicht nur eine völlig dialect-
freie Sprache, sondern gelangte auch zu einer Präcision der Lautgebung, wie
sie nur wenigen nichtsächsischen Schauspielern eigen ist.

Nach einer Sturm- und Drangperiode, wie sie fast jeder Bühnenkünstler
zu bestehen hat, während der er an verschiedenen kleineren und größeren
Theatern wirkte, fand er beim Hoftheater in Braunschweig eine bleibende
Stätte und als erster Charakterdarsteller äußere Vollendung. Damit aber
zugleich Gelegenheit, sich des Gegensatzes bewußt zu werden, in welchem er
sich zu dem auf das Aeußere gerichteten Streben der heutigen Bühne befand.
Unsere Theater, auch die Hofbühnen, haben unendlich wenig Raum für die
ideale Gestaltung und gerade in ihr, dessen war Türschmann sich wohl bewußt,
lag seine Bedeutung.

In der Stille eines Sommeraufenthaltes in Sachsen kam er zu dem
Entschlüsse, die Bühne zu verlassen und fand gleichzeitig sein eigentliches Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/28>, abgerufen am 24.08.2024.