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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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ist durch und durch politisch. Wenn es unsere Kritiker und Essayisten nicht
kennen, so trifft sie doch allein auch die Schuld., Ferner, auch die gesammte
dramatische Periode, welche etwa mit dem Jahre 1840 beginnt oder vielmehr
wieder beginnt, nachdem sie seit 18l3 durch Lyrik und Didactik ganz bei Seile
geschoben worden war, ist durch und durch politisch. Gleichviel wie man als
Aesthetiker oder Literat sich zu Rückert's Dramen stellen möge, gelesen sollte
man sie doch haben, wenn man sich ein Urtheil über seine Stellung zu den
großen die Zeit bewegenden Ideen, sei es im Gebiete des Staates oder der
Politischen Aufgaben der Natur, sei es im Gebiete des Glaubens und der
Religion zu fällen berufen hält. Vornehmes Nasenrümpfen ist hier sehr wenig
angebracht, ebenso wenig, wenn man sie mit irgend einem Schlagworte abge¬
fertigt glaubt. Denn ob bühnengerecht oder nicht, ob durch jeglichen Mangel
an eigentlicher Handlung absolut undramatisch, jedenfalls enthalten sie vielleicht
gerade durch ihre mehr lyrisch - subjective Conception überall die lebhaftesten
Bezüge auf die Gegenwart und ihre großen Probleme.

Was in dem Pulte des Dichters verschlossen geblieben ist, braucht und
kann freilich Niemand berücksichtigen, der nicht den Schlüssel dazu gehabt hat.
Sonst würden wir noch hinweisen auf den fast vollendeten, aber ungedruckten
Dramencyclus aus der Geschichte der großen sächsischen Kaiser, mit Recht der
eigentlichen Heroen des Dichters wie jedes patriotischen Deutschen -- setzen wir
hinzu -- auf die lange Reihe mehr oder minder ausgeführter dramatischer Skizzen
aus der deutschen Geschichte nicht etwa bloß des fernen Mittelalters, sondern des
nahen 18. Jahrhunderts, endlich auf die Menge poetischer Tagebuchblätter, in
welche der Dichter den Eindruck und Gewinn des Momentes zunächst nur für sich
selbst niederzulegen pflegte. Seit dem Jahre 1848, dessen Macht auf wenige Mit¬
lebende stärker wirkte als auf ihn, hat sich ihm die gesammte Zeitgeschichte im
Spiegel der Poesie reflectirt. Aber gerade die Unmittelbarkeit und die im speci¬
fischsten Wortsinn confidentielle Natur dieser in der Form unendlich mannig¬
faltigen, meist aber doch in wenigen Strophen oder Versen beschlossenen
Gebilde ließ es bisher nicht recht thunlich erscheinen, sie der Oeffentlichkeit
an übergeben. Geschähe es, so würde wenigstens jeder der sehen wollte, sehen,
daß im dem greisen Dichter noch ganz dieselbe Flamme loderte, zu deren
Gluth seine geharnischten Sonette geboren sind, daß ihm die durchschlagende
Drastik des ächt volksthümlichen Tones in den "kriegerischen Spoöt und Ehren¬
liedern" noch ganz so wie fünfzig Jahre früher gleichsam als eine seiner natür¬
lichen Stimmlagen zu Gebote stand, daß er in Haß und Liebe noch ganz die¬
selben großen Ideale pflegte, wie damals. Zugleich aber auch, wie bis in
das Einzelnste und scheinbar Entlegenste hinaus seinem scharfen Auge nichts ent¬
ging; auch, was man vielleicht einem Dichter am wenigsten zutrauen sollte,
wie ihn selbst die nüchterne Außenseite unserer parlamentarischen Vorgänge


ist durch und durch politisch. Wenn es unsere Kritiker und Essayisten nicht
kennen, so trifft sie doch allein auch die Schuld., Ferner, auch die gesammte
dramatische Periode, welche etwa mit dem Jahre 1840 beginnt oder vielmehr
wieder beginnt, nachdem sie seit 18l3 durch Lyrik und Didactik ganz bei Seile
geschoben worden war, ist durch und durch politisch. Gleichviel wie man als
Aesthetiker oder Literat sich zu Rückert's Dramen stellen möge, gelesen sollte
man sie doch haben, wenn man sich ein Urtheil über seine Stellung zu den
großen die Zeit bewegenden Ideen, sei es im Gebiete des Staates oder der
Politischen Aufgaben der Natur, sei es im Gebiete des Glaubens und der
Religion zu fällen berufen hält. Vornehmes Nasenrümpfen ist hier sehr wenig
angebracht, ebenso wenig, wenn man sie mit irgend einem Schlagworte abge¬
fertigt glaubt. Denn ob bühnengerecht oder nicht, ob durch jeglichen Mangel
an eigentlicher Handlung absolut undramatisch, jedenfalls enthalten sie vielleicht
gerade durch ihre mehr lyrisch - subjective Conception überall die lebhaftesten
Bezüge auf die Gegenwart und ihre großen Probleme.

Was in dem Pulte des Dichters verschlossen geblieben ist, braucht und
kann freilich Niemand berücksichtigen, der nicht den Schlüssel dazu gehabt hat.
Sonst würden wir noch hinweisen auf den fast vollendeten, aber ungedruckten
Dramencyclus aus der Geschichte der großen sächsischen Kaiser, mit Recht der
eigentlichen Heroen des Dichters wie jedes patriotischen Deutschen — setzen wir
hinzu — auf die lange Reihe mehr oder minder ausgeführter dramatischer Skizzen
aus der deutschen Geschichte nicht etwa bloß des fernen Mittelalters, sondern des
nahen 18. Jahrhunderts, endlich auf die Menge poetischer Tagebuchblätter, in
welche der Dichter den Eindruck und Gewinn des Momentes zunächst nur für sich
selbst niederzulegen pflegte. Seit dem Jahre 1848, dessen Macht auf wenige Mit¬
lebende stärker wirkte als auf ihn, hat sich ihm die gesammte Zeitgeschichte im
Spiegel der Poesie reflectirt. Aber gerade die Unmittelbarkeit und die im speci¬
fischsten Wortsinn confidentielle Natur dieser in der Form unendlich mannig¬
faltigen, meist aber doch in wenigen Strophen oder Versen beschlossenen
Gebilde ließ es bisher nicht recht thunlich erscheinen, sie der Oeffentlichkeit
an übergeben. Geschähe es, so würde wenigstens jeder der sehen wollte, sehen,
daß im dem greisen Dichter noch ganz dieselbe Flamme loderte, zu deren
Gluth seine geharnischten Sonette geboren sind, daß ihm die durchschlagende
Drastik des ächt volksthümlichen Tones in den „kriegerischen Spoöt und Ehren¬
liedern" noch ganz so wie fünfzig Jahre früher gleichsam als eine seiner natür¬
lichen Stimmlagen zu Gebote stand, daß er in Haß und Liebe noch ganz die¬
selben großen Ideale pflegte, wie damals. Zugleich aber auch, wie bis in
das Einzelnste und scheinbar Entlegenste hinaus seinem scharfen Auge nichts ent¬
ging; auch, was man vielleicht einem Dichter am wenigsten zutrauen sollte,
wie ihn selbst die nüchterne Außenseite unserer parlamentarischen Vorgänge


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[0255] ist durch und durch politisch. Wenn es unsere Kritiker und Essayisten nicht kennen, so trifft sie doch allein auch die Schuld., Ferner, auch die gesammte dramatische Periode, welche etwa mit dem Jahre 1840 beginnt oder vielmehr wieder beginnt, nachdem sie seit 18l3 durch Lyrik und Didactik ganz bei Seile geschoben worden war, ist durch und durch politisch. Gleichviel wie man als Aesthetiker oder Literat sich zu Rückert's Dramen stellen möge, gelesen sollte man sie doch haben, wenn man sich ein Urtheil über seine Stellung zu den großen die Zeit bewegenden Ideen, sei es im Gebiete des Staates oder der Politischen Aufgaben der Natur, sei es im Gebiete des Glaubens und der Religion zu fällen berufen hält. Vornehmes Nasenrümpfen ist hier sehr wenig angebracht, ebenso wenig, wenn man sie mit irgend einem Schlagworte abge¬ fertigt glaubt. Denn ob bühnengerecht oder nicht, ob durch jeglichen Mangel an eigentlicher Handlung absolut undramatisch, jedenfalls enthalten sie vielleicht gerade durch ihre mehr lyrisch - subjective Conception überall die lebhaftesten Bezüge auf die Gegenwart und ihre großen Probleme. Was in dem Pulte des Dichters verschlossen geblieben ist, braucht und kann freilich Niemand berücksichtigen, der nicht den Schlüssel dazu gehabt hat. Sonst würden wir noch hinweisen auf den fast vollendeten, aber ungedruckten Dramencyclus aus der Geschichte der großen sächsischen Kaiser, mit Recht der eigentlichen Heroen des Dichters wie jedes patriotischen Deutschen — setzen wir hinzu — auf die lange Reihe mehr oder minder ausgeführter dramatischer Skizzen aus der deutschen Geschichte nicht etwa bloß des fernen Mittelalters, sondern des nahen 18. Jahrhunderts, endlich auf die Menge poetischer Tagebuchblätter, in welche der Dichter den Eindruck und Gewinn des Momentes zunächst nur für sich selbst niederzulegen pflegte. Seit dem Jahre 1848, dessen Macht auf wenige Mit¬ lebende stärker wirkte als auf ihn, hat sich ihm die gesammte Zeitgeschichte im Spiegel der Poesie reflectirt. Aber gerade die Unmittelbarkeit und die im speci¬ fischsten Wortsinn confidentielle Natur dieser in der Form unendlich mannig¬ faltigen, meist aber doch in wenigen Strophen oder Versen beschlossenen Gebilde ließ es bisher nicht recht thunlich erscheinen, sie der Oeffentlichkeit an übergeben. Geschähe es, so würde wenigstens jeder der sehen wollte, sehen, daß im dem greisen Dichter noch ganz dieselbe Flamme loderte, zu deren Gluth seine geharnischten Sonette geboren sind, daß ihm die durchschlagende Drastik des ächt volksthümlichen Tones in den „kriegerischen Spoöt und Ehren¬ liedern" noch ganz so wie fünfzig Jahre früher gleichsam als eine seiner natür¬ lichen Stimmlagen zu Gebote stand, daß er in Haß und Liebe noch ganz die¬ selben großen Ideale pflegte, wie damals. Zugleich aber auch, wie bis in das Einzelnste und scheinbar Entlegenste hinaus seinem scharfen Auge nichts ent¬ ging; auch, was man vielleicht einem Dichter am wenigsten zutrauen sollte, wie ihn selbst die nüchterne Außenseite unserer parlamentarischen Vorgänge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/255>, abgerufen am 24.08.2024.