Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.ersten Abstimmung eilen, um nicht die Landtagssession über das Maß hinaus Bei Abfassung meines letzten Briefes war die erste Lesung der kirchlichen Grc"zboten I, 1373. 25
ersten Abstimmung eilen, um nicht die Landtagssession über das Maß hinaus Bei Abfassung meines letzten Briefes war die erste Lesung der kirchlichen Grc»zboten I, 1373. 25
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0201" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129193"/> <p xml:id="ID_650" prev="#ID_649"> ersten Abstimmung eilen, um nicht die Landtagssession über das Maß hinaus<lb/> zu verlängern. Denn auch der Reichstag, der auf den Landtag folgen wird,<lb/> hat große und dringende Ausgaben zu erledigen. Die Verfassungsänderung<lb/> könnte sofort in Angriff genommen und die Einzelberathung der kirchlichen<lb/> Gesetze doch noch so lange aufgeschoben werden, um der Commission Zeit zur<lb/> gründlichen Berichterstattung zu lassen. Denn bei der Verfassungsänderung<lb/> handelt es sich nur um die Aufnahme des Grundsatzes in die Verfassung,<lb/> daß der Staat das sogenannte ^us circa saerg., d. h. die Oberaufsicht des<lb/> Staates über den nicht staatswidrigen Gebrauch der kirchlichen Selbständig¬<lb/> keit, sich durch den sonstigen Inhalt der Artikel Is und 18 nicht für entzogen<lb/> erachtet. Unbeschadet dieses Grundsatzes könnte der Landtag an den Einzel¬<lb/> bestimmungen der Kirchengesetze manche Aenderung zur Vollständigkeit oder<lb/> zur Einschränkung wünschen.</p><lb/> <p xml:id="ID_651" next="#ID_652"> Bei Abfassung meines letzten Briefes war die erste Lesung der kirchlichen<lb/> Gesetzentwürfe noch nicht beendet. Der Gesetzentwurf über die kirchliche Dis-<lb/> ciplinargewalt stand noch aus, ebenso der über die Grenzen der kirchlichen<lb/> Straf- und Zuchtmittel. Die Verhandlungen, welche über diese beiden Ent¬<lb/> würfe in erster Lesung am Anfang dieser Woche stattgefunden haben, erheischen<lb/> indeß kein weiteres Eingehen. Die Waffen bleiben auf staatlicher wie auf<lb/> ultramontaner Seite dieselben. Hier klagt man womöglich über Vernichtung<lb/> der Religion, über Bedrückung der Gewissen. Dort behauptet man mit Recht,<lb/> daß der Staat sich nicht gegen die Religion wehrt, sondern gegen eine unbe¬<lb/> aufsichtigte Organisation materieller Kräfte auf dem Boden des Staats zur<lb/> Bekämpfung desselben. Die Religion bedarf eines solchen materiellen Appa¬<lb/> rates offenbar nicht, und was sie davon bedarf, das kann sie der Aufsicht und<lb/> der Mitwirkung des Staates unterwerfen, wenn sie anders ein gutes Ge¬<lb/> wissen hat. Bei der Einzelberathung werden wir voraussichtlich Veranlassung<lb/> haben, auf den Gegenstand der kirchlichen Vorlagen genauer einzugehen. Die<lb/> Verhandlungen der ersten Lesung geben uns eine solche Veranlassung nicht,<lb/> obwohl auf Seiten des katholischen Centrums unter Andern Herr v. Gerlach<lb/> das Wort nahm. Einst erschienen die Reden dieses Mannes mit ihrer kecken<lb/> Verleugnung des Bildungserwerbs dreier Jahrhunderte als gefährlich und be¬<lb/> ängstigend, weil man wußte, welchen Einfluß dieselben auf die höchste Stelle<lb/> des Staates übten. Niemand fürchtete, daß die Arbeit, welche einst Luther<lb/> begonnen, durch Herrn v. Gerlach könnte vernichtet werden. Aber das Aergste<lb/> mußte befürchtet werden für den Staat, der solchen Wahnsinn zum Leitstern<lb/> sich erkor. Heute, wo dieser schwere Traum von uns genommen ist, sind<lb/> Herrn v. Gerlach's Reden nur noch eine Curiosität, und wir finden, das die¬<lb/> selben, nachdem sie des Nachdrucks irdischer Macht entkleidet sind, auch das<lb/> Meiste von dem Schein geistiger Originalität verloren 'haben, durch den sie</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grc»zboten I, 1373. 25</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0201]
ersten Abstimmung eilen, um nicht die Landtagssession über das Maß hinaus
zu verlängern. Denn auch der Reichstag, der auf den Landtag folgen wird,
hat große und dringende Ausgaben zu erledigen. Die Verfassungsänderung
könnte sofort in Angriff genommen und die Einzelberathung der kirchlichen
Gesetze doch noch so lange aufgeschoben werden, um der Commission Zeit zur
gründlichen Berichterstattung zu lassen. Denn bei der Verfassungsänderung
handelt es sich nur um die Aufnahme des Grundsatzes in die Verfassung,
daß der Staat das sogenannte ^us circa saerg., d. h. die Oberaufsicht des
Staates über den nicht staatswidrigen Gebrauch der kirchlichen Selbständig¬
keit, sich durch den sonstigen Inhalt der Artikel Is und 18 nicht für entzogen
erachtet. Unbeschadet dieses Grundsatzes könnte der Landtag an den Einzel¬
bestimmungen der Kirchengesetze manche Aenderung zur Vollständigkeit oder
zur Einschränkung wünschen.
Bei Abfassung meines letzten Briefes war die erste Lesung der kirchlichen
Gesetzentwürfe noch nicht beendet. Der Gesetzentwurf über die kirchliche Dis-
ciplinargewalt stand noch aus, ebenso der über die Grenzen der kirchlichen
Straf- und Zuchtmittel. Die Verhandlungen, welche über diese beiden Ent¬
würfe in erster Lesung am Anfang dieser Woche stattgefunden haben, erheischen
indeß kein weiteres Eingehen. Die Waffen bleiben auf staatlicher wie auf
ultramontaner Seite dieselben. Hier klagt man womöglich über Vernichtung
der Religion, über Bedrückung der Gewissen. Dort behauptet man mit Recht,
daß der Staat sich nicht gegen die Religion wehrt, sondern gegen eine unbe¬
aufsichtigte Organisation materieller Kräfte auf dem Boden des Staats zur
Bekämpfung desselben. Die Religion bedarf eines solchen materiellen Appa¬
rates offenbar nicht, und was sie davon bedarf, das kann sie der Aufsicht und
der Mitwirkung des Staates unterwerfen, wenn sie anders ein gutes Ge¬
wissen hat. Bei der Einzelberathung werden wir voraussichtlich Veranlassung
haben, auf den Gegenstand der kirchlichen Vorlagen genauer einzugehen. Die
Verhandlungen der ersten Lesung geben uns eine solche Veranlassung nicht,
obwohl auf Seiten des katholischen Centrums unter Andern Herr v. Gerlach
das Wort nahm. Einst erschienen die Reden dieses Mannes mit ihrer kecken
Verleugnung des Bildungserwerbs dreier Jahrhunderte als gefährlich und be¬
ängstigend, weil man wußte, welchen Einfluß dieselben auf die höchste Stelle
des Staates übten. Niemand fürchtete, daß die Arbeit, welche einst Luther
begonnen, durch Herrn v. Gerlach könnte vernichtet werden. Aber das Aergste
mußte befürchtet werden für den Staat, der solchen Wahnsinn zum Leitstern
sich erkor. Heute, wo dieser schwere Traum von uns genommen ist, sind
Herrn v. Gerlach's Reden nur noch eine Curiosität, und wir finden, das die¬
selben, nachdem sie des Nachdrucks irdischer Macht entkleidet sind, auch das
Meiste von dem Schein geistiger Originalität verloren 'haben, durch den sie
Grc»zboten I, 1373. 25
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |