Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Land, um sich über dessen Erzeugnisse und über die Absatzfähigkeit russischer
Waaren dorthin zu unterrichten.

Nach allem bisher Mitgetheilten kann es keinem Zweifel unterliegen, wie
Rußland seinen Willen in Centralasien durchsetzt, wie es Vortheil über Vor¬
theil erlangt und seinen Produkten ein weites Absatzgebiet eröffnet. Allzu
sanguinische Hoffnungen darf man sich in letzterer Beziehung indessen nicht
machen; man muß bedenken, daß das ganze weite Gebiet ein erobertes ist und
daß die einheimische, der Lehre des Propheten fanatisch ergebene Bevölkerung
das fremde Joch widerwillig trägt. Ein sehr vorurtheilsfreier Russe, R. Ra-
jewski, der einige Jahre in Taschkend als Beamter lebte, die dortigen Ver¬
hältnisse genau, studirte, erhob vor Kurzem im Petersburger "Golos" (November
1872) seine Stimme, um vor zu sanguinischer Auffassung der innerasiatischen
Verhältnisse zu warnen. Seine Auseinandersetzungen sind beherzigenswert!),
sie bilden die Kehrseite des sonst glänzenden Bildes.

Diejenigen sagte er, welche an die Möglichkeit regelmäßiger und zufrieden¬
stellender Beziehungen zu den Khanaten glauben, mögen sich nicht täuschen.
Verträge, meint Rajewski, werden selbst in Europa gebrochen, aber noch viel
mehr in Asien. In den Thälern des Ann und Shr hat keinerlei Vertrag
bisher Bestand gehabt, wenn derjenige Theil, dem er unbequem wurde, die
Macht hatte ihn zu brechen. So lange Rußland seine starke Position in
Taschkend besitzt, werden die benachbarten Khanate nach seinem Willen sein
müssen -- mit oder ohne Verträge,- in dem Augenblicke aber, wo Rußland
sich schwach zeigt, wird kein Vertrag genügen, um russische Unterthanen im
Leben oder Eigenthum zu beschützen. Bochara brach die ersten Zusagen und
konnte nur durch Waffengewalt, die Wegnahme von Karschi und Schagrisabs,
zur Einhaltung seiner Verpflichtungen und zum Abschlüsse des neuen Vertrags
gezwungen werden.

Volk wie Herrscher sind beide in den Khanaten Rußland gleich feindlich
gesinnt, fanatische Mohamedaner, die unter dem Einflüsse der Priesterschaft
stehen. Dabei muß das Gefühl bleiben, daß Rußland sie im letzten Jahr¬
zehnt um gut die Hälfte ihres Gebietes verkleinert, sie zu seinen Vasallen
herabgedrückt hat. Woher soll da Liebe und Anhänglichkeit zu dem Feinde
kommen? Der Haß bleibt, er kann wohl verborgen gehalten werden, bricht
aber oft genug charakteristisch hervor. Vor einem Jahre etwa stattete der
Erbprinz von Kokand dem Generalgouvemeur in Taschkend einen Besuch ab;
der Zweck desselben ist hier Nebensache. Man gab ihm ein großes Essen, hielt
eine Revue ab und that ihm königliche Ehren an. Während dies ihn schon
im hohen Maße in Anspruch nahm, verlor er doch keineswegs seine Zeit,
sondern intriguirte im Rachen des Löwen; er setzte sich mit der national ge¬
sinnten Partei in Taschkend in Verbindung, vertheilte Geld unter sie. be-


Land, um sich über dessen Erzeugnisse und über die Absatzfähigkeit russischer
Waaren dorthin zu unterrichten.

Nach allem bisher Mitgetheilten kann es keinem Zweifel unterliegen, wie
Rußland seinen Willen in Centralasien durchsetzt, wie es Vortheil über Vor¬
theil erlangt und seinen Produkten ein weites Absatzgebiet eröffnet. Allzu
sanguinische Hoffnungen darf man sich in letzterer Beziehung indessen nicht
machen; man muß bedenken, daß das ganze weite Gebiet ein erobertes ist und
daß die einheimische, der Lehre des Propheten fanatisch ergebene Bevölkerung
das fremde Joch widerwillig trägt. Ein sehr vorurtheilsfreier Russe, R. Ra-
jewski, der einige Jahre in Taschkend als Beamter lebte, die dortigen Ver¬
hältnisse genau, studirte, erhob vor Kurzem im Petersburger „Golos" (November
1872) seine Stimme, um vor zu sanguinischer Auffassung der innerasiatischen
Verhältnisse zu warnen. Seine Auseinandersetzungen sind beherzigenswert!),
sie bilden die Kehrseite des sonst glänzenden Bildes.

Diejenigen sagte er, welche an die Möglichkeit regelmäßiger und zufrieden¬
stellender Beziehungen zu den Khanaten glauben, mögen sich nicht täuschen.
Verträge, meint Rajewski, werden selbst in Europa gebrochen, aber noch viel
mehr in Asien. In den Thälern des Ann und Shr hat keinerlei Vertrag
bisher Bestand gehabt, wenn derjenige Theil, dem er unbequem wurde, die
Macht hatte ihn zu brechen. So lange Rußland seine starke Position in
Taschkend besitzt, werden die benachbarten Khanate nach seinem Willen sein
müssen — mit oder ohne Verträge,- in dem Augenblicke aber, wo Rußland
sich schwach zeigt, wird kein Vertrag genügen, um russische Unterthanen im
Leben oder Eigenthum zu beschützen. Bochara brach die ersten Zusagen und
konnte nur durch Waffengewalt, die Wegnahme von Karschi und Schagrisabs,
zur Einhaltung seiner Verpflichtungen und zum Abschlüsse des neuen Vertrags
gezwungen werden.

Volk wie Herrscher sind beide in den Khanaten Rußland gleich feindlich
gesinnt, fanatische Mohamedaner, die unter dem Einflüsse der Priesterschaft
stehen. Dabei muß das Gefühl bleiben, daß Rußland sie im letzten Jahr¬
zehnt um gut die Hälfte ihres Gebietes verkleinert, sie zu seinen Vasallen
herabgedrückt hat. Woher soll da Liebe und Anhänglichkeit zu dem Feinde
kommen? Der Haß bleibt, er kann wohl verborgen gehalten werden, bricht
aber oft genug charakteristisch hervor. Vor einem Jahre etwa stattete der
Erbprinz von Kokand dem Generalgouvemeur in Taschkend einen Besuch ab;
der Zweck desselben ist hier Nebensache. Man gab ihm ein großes Essen, hielt
eine Revue ab und that ihm königliche Ehren an. Während dies ihn schon
im hohen Maße in Anspruch nahm, verlor er doch keineswegs seine Zeit,
sondern intriguirte im Rachen des Löwen; er setzte sich mit der national ge¬
sinnten Partei in Taschkend in Verbindung, vertheilte Geld unter sie. be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129130"/>
          <p xml:id="ID_462" prev="#ID_461"> Land, um sich über dessen Erzeugnisse und über die Absatzfähigkeit russischer<lb/>
Waaren dorthin zu unterrichten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_463"> Nach allem bisher Mitgetheilten kann es keinem Zweifel unterliegen, wie<lb/>
Rußland seinen Willen in Centralasien durchsetzt, wie es Vortheil über Vor¬<lb/>
theil erlangt und seinen Produkten ein weites Absatzgebiet eröffnet. Allzu<lb/>
sanguinische Hoffnungen darf man sich in letzterer Beziehung indessen nicht<lb/>
machen; man muß bedenken, daß das ganze weite Gebiet ein erobertes ist und<lb/>
daß die einheimische, der Lehre des Propheten fanatisch ergebene Bevölkerung<lb/>
das fremde Joch widerwillig trägt. Ein sehr vorurtheilsfreier Russe, R. Ra-<lb/>
jewski, der einige Jahre in Taschkend als Beamter lebte, die dortigen Ver¬<lb/>
hältnisse genau, studirte, erhob vor Kurzem im Petersburger &#x201E;Golos" (November<lb/>
1872) seine Stimme, um vor zu sanguinischer Auffassung der innerasiatischen<lb/>
Verhältnisse zu warnen. Seine Auseinandersetzungen sind beherzigenswert!),<lb/>
sie bilden die Kehrseite des sonst glänzenden Bildes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_464"> Diejenigen sagte er, welche an die Möglichkeit regelmäßiger und zufrieden¬<lb/>
stellender Beziehungen zu den Khanaten glauben, mögen sich nicht täuschen.<lb/>
Verträge, meint Rajewski, werden selbst in Europa gebrochen, aber noch viel<lb/>
mehr in Asien. In den Thälern des Ann und Shr hat keinerlei Vertrag<lb/>
bisher Bestand gehabt, wenn derjenige Theil, dem er unbequem wurde, die<lb/>
Macht hatte ihn zu brechen. So lange Rußland seine starke Position in<lb/>
Taschkend besitzt, werden die benachbarten Khanate nach seinem Willen sein<lb/>
müssen &#x2014; mit oder ohne Verträge,- in dem Augenblicke aber, wo Rußland<lb/>
sich schwach zeigt, wird kein Vertrag genügen, um russische Unterthanen im<lb/>
Leben oder Eigenthum zu beschützen. Bochara brach die ersten Zusagen und<lb/>
konnte nur durch Waffengewalt, die Wegnahme von Karschi und Schagrisabs,<lb/>
zur Einhaltung seiner Verpflichtungen und zum Abschlüsse des neuen Vertrags<lb/>
gezwungen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_465" next="#ID_466"> Volk wie Herrscher sind beide in den Khanaten Rußland gleich feindlich<lb/>
gesinnt, fanatische Mohamedaner, die unter dem Einflüsse der Priesterschaft<lb/>
stehen. Dabei muß das Gefühl bleiben, daß Rußland sie im letzten Jahr¬<lb/>
zehnt um gut die Hälfte ihres Gebietes verkleinert, sie zu seinen Vasallen<lb/>
herabgedrückt hat. Woher soll da Liebe und Anhänglichkeit zu dem Feinde<lb/>
kommen? Der Haß bleibt, er kann wohl verborgen gehalten werden, bricht<lb/>
aber oft genug charakteristisch hervor. Vor einem Jahre etwa stattete der<lb/>
Erbprinz von Kokand dem Generalgouvemeur in Taschkend einen Besuch ab;<lb/>
der Zweck desselben ist hier Nebensache. Man gab ihm ein großes Essen, hielt<lb/>
eine Revue ab und that ihm königliche Ehren an. Während dies ihn schon<lb/>
im hohen Maße in Anspruch nahm, verlor er doch keineswegs seine Zeit,<lb/>
sondern intriguirte im Rachen des Löwen; er setzte sich mit der national ge¬<lb/>
sinnten Partei in Taschkend in Verbindung, vertheilte Geld unter sie. be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0138] Land, um sich über dessen Erzeugnisse und über die Absatzfähigkeit russischer Waaren dorthin zu unterrichten. Nach allem bisher Mitgetheilten kann es keinem Zweifel unterliegen, wie Rußland seinen Willen in Centralasien durchsetzt, wie es Vortheil über Vor¬ theil erlangt und seinen Produkten ein weites Absatzgebiet eröffnet. Allzu sanguinische Hoffnungen darf man sich in letzterer Beziehung indessen nicht machen; man muß bedenken, daß das ganze weite Gebiet ein erobertes ist und daß die einheimische, der Lehre des Propheten fanatisch ergebene Bevölkerung das fremde Joch widerwillig trägt. Ein sehr vorurtheilsfreier Russe, R. Ra- jewski, der einige Jahre in Taschkend als Beamter lebte, die dortigen Ver¬ hältnisse genau, studirte, erhob vor Kurzem im Petersburger „Golos" (November 1872) seine Stimme, um vor zu sanguinischer Auffassung der innerasiatischen Verhältnisse zu warnen. Seine Auseinandersetzungen sind beherzigenswert!), sie bilden die Kehrseite des sonst glänzenden Bildes. Diejenigen sagte er, welche an die Möglichkeit regelmäßiger und zufrieden¬ stellender Beziehungen zu den Khanaten glauben, mögen sich nicht täuschen. Verträge, meint Rajewski, werden selbst in Europa gebrochen, aber noch viel mehr in Asien. In den Thälern des Ann und Shr hat keinerlei Vertrag bisher Bestand gehabt, wenn derjenige Theil, dem er unbequem wurde, die Macht hatte ihn zu brechen. So lange Rußland seine starke Position in Taschkend besitzt, werden die benachbarten Khanate nach seinem Willen sein müssen — mit oder ohne Verträge,- in dem Augenblicke aber, wo Rußland sich schwach zeigt, wird kein Vertrag genügen, um russische Unterthanen im Leben oder Eigenthum zu beschützen. Bochara brach die ersten Zusagen und konnte nur durch Waffengewalt, die Wegnahme von Karschi und Schagrisabs, zur Einhaltung seiner Verpflichtungen und zum Abschlüsse des neuen Vertrags gezwungen werden. Volk wie Herrscher sind beide in den Khanaten Rußland gleich feindlich gesinnt, fanatische Mohamedaner, die unter dem Einflüsse der Priesterschaft stehen. Dabei muß das Gefühl bleiben, daß Rußland sie im letzten Jahr¬ zehnt um gut die Hälfte ihres Gebietes verkleinert, sie zu seinen Vasallen herabgedrückt hat. Woher soll da Liebe und Anhänglichkeit zu dem Feinde kommen? Der Haß bleibt, er kann wohl verborgen gehalten werden, bricht aber oft genug charakteristisch hervor. Vor einem Jahre etwa stattete der Erbprinz von Kokand dem Generalgouvemeur in Taschkend einen Besuch ab; der Zweck desselben ist hier Nebensache. Man gab ihm ein großes Essen, hielt eine Revue ab und that ihm königliche Ehren an. Während dies ihn schon im hohen Maße in Anspruch nahm, verlor er doch keineswegs seine Zeit, sondern intriguirte im Rachen des Löwen; er setzte sich mit der national ge¬ sinnten Partei in Taschkend in Verbindung, vertheilte Geld unter sie. be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/138
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/138>, abgerufen am 02.10.2024.