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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Du unser geliebter Vogel! Unser Licht, o Herr, bald wird es im Himmel
und auf Erden herrschen, Ruhm, Preis und Ehre sei Gott dem Herrn in
Ewigkeit. Amen!"

In der Regel singen bei solchen Zusammenkünften die Männer. Sie
sitzen dabei auf Stühlen oder Bänken und schlagen den Text zu der Melodie,
indem sie die flachen Hände auf die Schenkel fallen lassen; denn in einem
Psalme David's heißt es: "Alle Völker, klatscht mit den Händen". Die Frauen
stehen, machen tempoartige Gesten und stampfen tactmäßig mit den Füßen.
Manche verlassen auch wohl ihren Ort und wirbeln ein Stück fort, indem sie
sich um ihre Achse drehen. Nach einer Pause lösen die Weiber des "Schiffes",
(so nennt sich nach altkirchlicher Ueberlieferung eine solche Versammlung) die
Männer im Singen ab. Alle Versammelten erheben sich, mehr und mehr in
Verzückung gerathen, klatschen in die Hände, hüpfen empor und drehen sich
mit ausgebreiteten Armen gleich den persischen Derwischen in Kreisen tanzend
durch den Saal, bis die Verzückung in Zuckungen übergeht und sie halb ohn¬
mächtig niedersinken.

Man bezeichnet diese wilden Tänze, die Gott besonders wohlgefällig sein
sollen, mit einem Worte, welches "Arbeit" bedeutet, und die Stimmung, die
dazu treibt, mit einem andern, welches unserem "Eifer" entspricht. Schon
die heilige Schrift kannte diesen Gottesdienst, sagen die Skopzen, die in dieser
Hinsicht ihr Seitenstück in den Shakern Amerikas haben. So tanzte Mirjam,
die Schwester Moses', beim Durchgang durch das rothe Meer, und David,
der Prophet und König, bei der Wiederkehr der Bundeslade. Mit solchem
Reigen feierten die Engel und Erzengel im Himmel den Sieg über Lucifer.
In dieser Weise, also tanzend, betete der Heiland zu Anfang seiner Passion
im Garten Gethsemane mit seinen Jüngern und mit solchen Umdrehungen
um sich selbst fuhr er bei der Verklärung auf dem Berge Tabor gen Himmel.

Nachdem die Tänze und Gesänge genügend aufgeregt hatten, fing jene
Babanin, die in Militopol die Versammlungen der Skopzen leitete, an, zu
predigen und zu weissagen. Die Bibel in der Hand trat sie auf einen Teppich
in der Mitte des Saales, während die Andern um sie herum niederknieten.
"Beten wir mit Inbrunst," rief sie, "auf daß Christus wiederkomme." Nach
einer Pause sagte sie dann: "Jetzt ist er in unsrer Mitte. Und nun öffnet
eure Ohren; denn ich werde euch Wunderbares verkündigen. Sehet hier das
Buch der Zeugung, die schriftkundige Gottesgelehrte wird euch daraus vor¬
lesen." Dies geschah nun, indem sie irgend ein dunkles Kapitel, am liebsten
aus der Offenbarung Johannis, wählte, über welches sie dann allerhand selt¬
same Einfälle und Phantasien vortrug, die zum Theil in schlechte Verse und
Reime gekleidet waren. Zuletzt wendete sie sich von der Versammlung ub


Du unser geliebter Vogel! Unser Licht, o Herr, bald wird es im Himmel
und auf Erden herrschen, Ruhm, Preis und Ehre sei Gott dem Herrn in
Ewigkeit. Amen!"

In der Regel singen bei solchen Zusammenkünften die Männer. Sie
sitzen dabei auf Stühlen oder Bänken und schlagen den Text zu der Melodie,
indem sie die flachen Hände auf die Schenkel fallen lassen; denn in einem
Psalme David's heißt es: „Alle Völker, klatscht mit den Händen". Die Frauen
stehen, machen tempoartige Gesten und stampfen tactmäßig mit den Füßen.
Manche verlassen auch wohl ihren Ort und wirbeln ein Stück fort, indem sie
sich um ihre Achse drehen. Nach einer Pause lösen die Weiber des „Schiffes",
(so nennt sich nach altkirchlicher Ueberlieferung eine solche Versammlung) die
Männer im Singen ab. Alle Versammelten erheben sich, mehr und mehr in
Verzückung gerathen, klatschen in die Hände, hüpfen empor und drehen sich
mit ausgebreiteten Armen gleich den persischen Derwischen in Kreisen tanzend
durch den Saal, bis die Verzückung in Zuckungen übergeht und sie halb ohn¬
mächtig niedersinken.

Man bezeichnet diese wilden Tänze, die Gott besonders wohlgefällig sein
sollen, mit einem Worte, welches „Arbeit" bedeutet, und die Stimmung, die
dazu treibt, mit einem andern, welches unserem „Eifer" entspricht. Schon
die heilige Schrift kannte diesen Gottesdienst, sagen die Skopzen, die in dieser
Hinsicht ihr Seitenstück in den Shakern Amerikas haben. So tanzte Mirjam,
die Schwester Moses', beim Durchgang durch das rothe Meer, und David,
der Prophet und König, bei der Wiederkehr der Bundeslade. Mit solchem
Reigen feierten die Engel und Erzengel im Himmel den Sieg über Lucifer.
In dieser Weise, also tanzend, betete der Heiland zu Anfang seiner Passion
im Garten Gethsemane mit seinen Jüngern und mit solchen Umdrehungen
um sich selbst fuhr er bei der Verklärung auf dem Berge Tabor gen Himmel.

Nachdem die Tänze und Gesänge genügend aufgeregt hatten, fing jene
Babanin, die in Militopol die Versammlungen der Skopzen leitete, an, zu
predigen und zu weissagen. Die Bibel in der Hand trat sie auf einen Teppich
in der Mitte des Saales, während die Andern um sie herum niederknieten.
„Beten wir mit Inbrunst," rief sie, „auf daß Christus wiederkomme." Nach
einer Pause sagte sie dann: „Jetzt ist er in unsrer Mitte. Und nun öffnet
eure Ohren; denn ich werde euch Wunderbares verkündigen. Sehet hier das
Buch der Zeugung, die schriftkundige Gottesgelehrte wird euch daraus vor¬
lesen." Dies geschah nun, indem sie irgend ein dunkles Kapitel, am liebsten
aus der Offenbarung Johannis, wählte, über welches sie dann allerhand selt¬
same Einfälle und Phantasien vortrug, die zum Theil in schlechte Verse und
Reime gekleidet waren. Zuletzt wendete sie sich von der Versammlung ub


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/502>, abgerufen am 22.07.2024.