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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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ziemlich gleich. Sie beantworteten die ihnen vorgelegten Fragen gewöhnlich
in folgender Form: "Geboren in dem oder dem Jahr, in diesem oder jenem
Orte, getauft nach christlichem griechisch-russischem Ritus, in der christlichen
Religion äußerst mangelhaft unterrichtet, des Lesens und Schreibens unkun¬
dig, bei Einweihung in den Militärdienst ohne irgend eine Vorstellung von
häretischen Lehren und ohne Kenntniß vom christlichen Glauben." Sonst ist
aus den Aussagen dieser Skopzen zu ersehen, daß sie, wenn auch ohne religiöse
oder anderweitige Bildung, doch meist Leute waren, welche zu einer ernsten
Auffassung der Dinge und zur Aufnahme der Wahrheiten der Religion hin¬
neigten. Die Propheten des Skopzenthums bemerkten diese ernste Stimmung
und wußten sich ihnen zu nähern und sich ihnen zunächst nicht sowohl durch
Mittheilung der Lehren und Pflichten der Secte als durch einen wenigstens
anscheinend reinen und gottseliger Lebenswandel zu empfehlen. Mit der Ent¬
hüllung ihrer Geheimnisse beeilten sich diese Proselytenmacher überhaupt nicht.
Vielmehr ließen sie in dem Neophyten bis zum Act der Entmannung kaum durch
irgend eine Aeußerung oder Handlung den Argwohn aufkommen, daß er im
Begriff sei, das Christenthum mit einer fast völlig davon verschiedenen Reli¬
gion zu vertauschen und zugleich der gewöhnlichen Welt zu Gunsten einer ihr
ganz abgewendeten Secte zu entsagen. Erst nach vollzogener Castrirung, nach¬
dem dem Neubekehrten keine Wahl mehr gelassen ist als die Zugehörigkeit
zur Secte, weiht man ihn wirklich in deren Mysterien ein, aber nicht ohne
ihn vorher zur strengsten Geheimhaltung derselben zu verpflichten.

Wir geben nun einiges Nähere über den Glauben und die gottesdienst¬
lichen Bräuche der Skopzen.

Die geschlechtliche Verstümmelung oder um mit den Rednern der Secte
zu sprechen, "die Feuertaufe" oder "Beschneidungstaufe" ist das höchste gute
Werk, die Thür zu vollkommener Erlösung, das "Siegel Gottes", von dem
die Offenbarung des Apostels Johannes handelt. Sie zerfällt in eine höhere
und verdienstlichere Klasse, die "das große Siegel" heißt und in gänzlicher
Beseitigung des betreffenden Körpertheiles besteht, und in eine zweite Klasse,
das "kleine Siegel", welches einfache Castrirung bedeutet. Dieses Opfer ist
nach der Lehre der Skopzen unerläßlich für den Eingang ins Himmelreich.
Wer mit einem Weibe geschlechtlichen Verkehr pflegt, begeht schwere Sünde
und fordert die göttliche Strafe heraus wie David durch seinen Verkehr mit
dem Weibe des Urias. Dann ist es ganz einerlei, ob sie verheirathet sind
oder nicht. Unsere eigenen Eltern waren heillose Sünder, als sie uns das Leben
gaben. So scheint es in einigen Skopzengemeinden zu den Ceremonien zu gehören,
die der Proselyt vor seiner schließlichen Einweihung in die letzten Geheimnisse
der Secte durchzumachen hat, daß er einen Zettel, auf dem die Namen seines
Vaters und seiner Mutter stehen, mit Füßen tritt. Dasselbe hat er dann mit


ziemlich gleich. Sie beantworteten die ihnen vorgelegten Fragen gewöhnlich
in folgender Form: „Geboren in dem oder dem Jahr, in diesem oder jenem
Orte, getauft nach christlichem griechisch-russischem Ritus, in der christlichen
Religion äußerst mangelhaft unterrichtet, des Lesens und Schreibens unkun¬
dig, bei Einweihung in den Militärdienst ohne irgend eine Vorstellung von
häretischen Lehren und ohne Kenntniß vom christlichen Glauben." Sonst ist
aus den Aussagen dieser Skopzen zu ersehen, daß sie, wenn auch ohne religiöse
oder anderweitige Bildung, doch meist Leute waren, welche zu einer ernsten
Auffassung der Dinge und zur Aufnahme der Wahrheiten der Religion hin¬
neigten. Die Propheten des Skopzenthums bemerkten diese ernste Stimmung
und wußten sich ihnen zu nähern und sich ihnen zunächst nicht sowohl durch
Mittheilung der Lehren und Pflichten der Secte als durch einen wenigstens
anscheinend reinen und gottseliger Lebenswandel zu empfehlen. Mit der Ent¬
hüllung ihrer Geheimnisse beeilten sich diese Proselytenmacher überhaupt nicht.
Vielmehr ließen sie in dem Neophyten bis zum Act der Entmannung kaum durch
irgend eine Aeußerung oder Handlung den Argwohn aufkommen, daß er im
Begriff sei, das Christenthum mit einer fast völlig davon verschiedenen Reli¬
gion zu vertauschen und zugleich der gewöhnlichen Welt zu Gunsten einer ihr
ganz abgewendeten Secte zu entsagen. Erst nach vollzogener Castrirung, nach¬
dem dem Neubekehrten keine Wahl mehr gelassen ist als die Zugehörigkeit
zur Secte, weiht man ihn wirklich in deren Mysterien ein, aber nicht ohne
ihn vorher zur strengsten Geheimhaltung derselben zu verpflichten.

Wir geben nun einiges Nähere über den Glauben und die gottesdienst¬
lichen Bräuche der Skopzen.

Die geschlechtliche Verstümmelung oder um mit den Rednern der Secte
zu sprechen, „die Feuertaufe" oder „Beschneidungstaufe" ist das höchste gute
Werk, die Thür zu vollkommener Erlösung, das „Siegel Gottes", von dem
die Offenbarung des Apostels Johannes handelt. Sie zerfällt in eine höhere
und verdienstlichere Klasse, die „das große Siegel" heißt und in gänzlicher
Beseitigung des betreffenden Körpertheiles besteht, und in eine zweite Klasse,
das „kleine Siegel", welches einfache Castrirung bedeutet. Dieses Opfer ist
nach der Lehre der Skopzen unerläßlich für den Eingang ins Himmelreich.
Wer mit einem Weibe geschlechtlichen Verkehr pflegt, begeht schwere Sünde
und fordert die göttliche Strafe heraus wie David durch seinen Verkehr mit
dem Weibe des Urias. Dann ist es ganz einerlei, ob sie verheirathet sind
oder nicht. Unsere eigenen Eltern waren heillose Sünder, als sie uns das Leben
gaben. So scheint es in einigen Skopzengemeinden zu den Ceremonien zu gehören,
die der Proselyt vor seiner schließlichen Einweihung in die letzten Geheimnisse
der Secte durchzumachen hat, daß er einen Zettel, auf dem die Namen seines
Vaters und seiner Mutter stehen, mit Füßen tritt. Dasselbe hat er dann mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/498>, abgerufen am 22.07.2024.