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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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werden. Es ist wundersam, mit welcher Hartnäckigkeit sich das Ausland im
Allgemeinen einer genauen und vorurtheilsfreien Würdigung der hier in
neuester Zeit vollzogenen Thatsachen verschließt; man stellt sich Rußland noch
immer als Sibirien, die Gegenwart noch immer als Vergangenheit vor. Die
Grundsätze der Freiheit haben längst auch im Herzen Rußlands Wurzel gefaßt.
-- An der allgemeinen Wiederbelebung hat selbst die orthodoxe griechische
Kirche ihren Antheil, und kaum kann irgend ein anderes Zeichen überzeugen¬
der darthun, als dieses, wie kräftig der Geist der Neuzeit auch östlich der
Weichsel sich Bahn bricht. Schweigen! -- war der kategorische Imperativ
für die russische Gesellschaft einer jetzt alternden Generation, die nun blöden
Auges auf die Vergangenheit wie auf einen Traum, nicht selten scheuen und
bangen Blickes auf die Gegenwart, auf die Zukunft und trauernd auf die
gute alte Zeit zurückschaut. Schweigen! -- war vor Allem der Grundsatz
der rechtgläubigen Kirche, dem sich die Hirten nicht weniger entschlossen selbst
unterwarfen, als sie es von der Heerde verlangten. Abgeschlossen in sich und
nach außen ging sie still und lautlos ihren Weg.

Das ist im Laufe des letzten Jahrzehnts ganz anders geworden; man
schweigt nicht mehr, man redet und läßt reden. Man erkannte auch hier, daß
eine möglichst weit verbreitete Aufklärung der Sache nur nützen könne. Man
ließ die Schranken nach innen und außen fallen; gestattete dem Priester den
Verkehr und freien Meinungsaustausch mit den Laien, diesen die geistige Mit¬
arbeit an dem Werke religiöser Aufklärung und ging über die Grenzen des
Reiches hinaus, um mit anderen Kirchen, denen man sich verwandt fühlte,
Beziehungen anzuknüpfen, dogmatische Erörterungen zu pflegen und wo mög¬
lich Bündnisse zu schließen. Man muß mit dem luftdichten Verschluß, unter
dem die russische Kirche früher leben und blühen zu können vermeinte, mit
dem mumienhaft vertrockneten Geistesleben verflossener Tage vertraut sein, um
die tiefgehende Bedeutung, die Großartigkeit dieser Wandlung voll würdigen,
den Entschluß zu einer inneren Wiedergeburt auch vom Standpunkt des
Andersgläubigen mit ganzer Freudigkeit begrüßen zu können. Die orthodoxe
Kirche spricht! Und sie spricht mit einer Freisinnigkeit und Offenherzigkeit,
welche beweisen, wie sehr sie von der Nothwendigkeit ihrer Neugestaltung
durchdrungen, wie entschieden der Bruch mit der Vergangenheit ist.

Das Dunkel, in welches die orthodoxe Kirche sich früher hüllte, ver¬
wehrte der Allgemeinheit bisher den Zutritt zu ihrer Lehre und zu ihrer Ver¬
fassung. Es war schwer die äußeren Erscheinungen mit den Satzungen, mit
der innern Gestalt in einen kritischen Vergleich zu setzen. Das Urtheil über
die Kirche war daher nicht immer ein günstiges. Heute, wo sie vor aller
Welt verkündet, welches ihre leitenden Anschauungen sind und welche Refor¬
men sie einzuführen bereit ist, darf bekannt werden: sie ist besser als ihr Ruf.


werden. Es ist wundersam, mit welcher Hartnäckigkeit sich das Ausland im
Allgemeinen einer genauen und vorurtheilsfreien Würdigung der hier in
neuester Zeit vollzogenen Thatsachen verschließt; man stellt sich Rußland noch
immer als Sibirien, die Gegenwart noch immer als Vergangenheit vor. Die
Grundsätze der Freiheit haben längst auch im Herzen Rußlands Wurzel gefaßt.
— An der allgemeinen Wiederbelebung hat selbst die orthodoxe griechische
Kirche ihren Antheil, und kaum kann irgend ein anderes Zeichen überzeugen¬
der darthun, als dieses, wie kräftig der Geist der Neuzeit auch östlich der
Weichsel sich Bahn bricht. Schweigen! — war der kategorische Imperativ
für die russische Gesellschaft einer jetzt alternden Generation, die nun blöden
Auges auf die Vergangenheit wie auf einen Traum, nicht selten scheuen und
bangen Blickes auf die Gegenwart, auf die Zukunft und trauernd auf die
gute alte Zeit zurückschaut. Schweigen! — war vor Allem der Grundsatz
der rechtgläubigen Kirche, dem sich die Hirten nicht weniger entschlossen selbst
unterwarfen, als sie es von der Heerde verlangten. Abgeschlossen in sich und
nach außen ging sie still und lautlos ihren Weg.

Das ist im Laufe des letzten Jahrzehnts ganz anders geworden; man
schweigt nicht mehr, man redet und läßt reden. Man erkannte auch hier, daß
eine möglichst weit verbreitete Aufklärung der Sache nur nützen könne. Man
ließ die Schranken nach innen und außen fallen; gestattete dem Priester den
Verkehr und freien Meinungsaustausch mit den Laien, diesen die geistige Mit¬
arbeit an dem Werke religiöser Aufklärung und ging über die Grenzen des
Reiches hinaus, um mit anderen Kirchen, denen man sich verwandt fühlte,
Beziehungen anzuknüpfen, dogmatische Erörterungen zu pflegen und wo mög¬
lich Bündnisse zu schließen. Man muß mit dem luftdichten Verschluß, unter
dem die russische Kirche früher leben und blühen zu können vermeinte, mit
dem mumienhaft vertrockneten Geistesleben verflossener Tage vertraut sein, um
die tiefgehende Bedeutung, die Großartigkeit dieser Wandlung voll würdigen,
den Entschluß zu einer inneren Wiedergeburt auch vom Standpunkt des
Andersgläubigen mit ganzer Freudigkeit begrüßen zu können. Die orthodoxe
Kirche spricht! Und sie spricht mit einer Freisinnigkeit und Offenherzigkeit,
welche beweisen, wie sehr sie von der Nothwendigkeit ihrer Neugestaltung
durchdrungen, wie entschieden der Bruch mit der Vergangenheit ist.

Das Dunkel, in welches die orthodoxe Kirche sich früher hüllte, ver¬
wehrte der Allgemeinheit bisher den Zutritt zu ihrer Lehre und zu ihrer Ver¬
fassung. Es war schwer die äußeren Erscheinungen mit den Satzungen, mit
der innern Gestalt in einen kritischen Vergleich zu setzen. Das Urtheil über
die Kirche war daher nicht immer ein günstiges. Heute, wo sie vor aller
Welt verkündet, welches ihre leitenden Anschauungen sind und welche Refor¬
men sie einzuführen bereit ist, darf bekannt werden: sie ist besser als ihr Ruf.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/343>, abgerufen am 04.07.2024.