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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Dr. Eras habe die tiefere Ursache und die Symptome verwechselt, indem er
den Anreiz der großen Städte auf ärmere Personen hervorgehoben; es handele
sich aber im Wesentlichen mit um Einrichtungen, die den ländlichen Gemeinden
und kleineren Städten zugute kommen sollten. Der Staat solle ein Zwangsrecht
haben, wo ohne Uebung desselben bedrohliche Zustände herbeigeführt werden
könnten.

Nach der Rede von Dr. A. Meyer vertheidigte noch Bürgermeister v. Lin¬
singen aus Ueltzen die Gemeindebehörden gegen die Angriffe von Seiten der
Gewerkvereine. Die Vertreter der kleinen Städte Hannovers hätten auf den
dringenden Wunsch der Arbeiter selbst die Beibehaltung der Zwangseassen
befürwortet, die dort seit 30 Jahren beständen und aus denen die alten Ar¬
beiter jetzt Unterstützung erwarteten, während die jungen von neuen Ideen
erfüllten Gesellen nicht zahlen wollten. Die freien Cassen würden sich nicht
bewähren und den Gemeinden die Sorge für die unterstützungsbedürftigen
Arbeiter überlassen. Der Zwang müsse und werde einst fallen; jetzt sei man
aber noch nicht so weit, um ihn aufheben zu können, denn der Arbeiter sei
sich seiner wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit noch nicht bewußt.

Nach erfolgtem Schluß der Debatte resumirte Stadtrath Rickert die De¬
batte. Der Ruf nach gewerblichen Zwangseassen sei nur eine Wirkung der
Furcht vor den Strikecassen der Gewerkvereine, es fehle aber der Nachweis,
die Zwangseassen in wirksamer Weise einführen zu können und die dagegen
erhobenen Bedenken seien nicht widerlegt worden. Man möge doch einmal
den Weg der Freiwilligkeit versuchen; ehe dies nicht geschehen, dürfe man
nicht für einen Theil der Arbeiter ein Ausnahmegesetz schaffen. Die Reso¬
lution, welche die Herren Eras und Oppenheim vorschlugen, erscheine ver¬
früht. Die Frage wegen der Arbeitshäuser möge dem nächsten Congreß vor¬
behalten bleiben. Professor Böhmert sprach sich ebenfalls für Vertagung der
Frage wegen der Arbeitshäuser aus und polemisirte gegen die Ausführungen
des Herrn Dr. Wolff und Dr. A. Meyer, womit dieselben von früher be¬
kannten Grundsätzen zurücktraten.

Durch die Anordnung von Zwangseassen greife der Staat in die Lohn¬
frage ein. Die Höhe des Lohnes werde durch Zwangsbeiträge der Unter¬
nehmer künstlich verdeckt, was beiden Theilen nachtheilig sei und namentlich
nicht angehe, wenn eine Industrie am Weltmarkt sich betheilige, wo doch die
Industrien anderer Länder ohne die Belastung der Unternehmer durch Zwangs¬
beiträge mit ihnen concurriren. -- Dr. Eras zog den von ihm in Gemein¬
schaft mit Oppenheim gestellten Antrag zurück. Bei der schließlichen Abstim¬
mung wurden die von Rickert und Böhmert gestellten Anträge fast einstimmig
angenommen.




Grcnzbote" IV. 1872.4

Dr. Eras habe die tiefere Ursache und die Symptome verwechselt, indem er
den Anreiz der großen Städte auf ärmere Personen hervorgehoben; es handele
sich aber im Wesentlichen mit um Einrichtungen, die den ländlichen Gemeinden
und kleineren Städten zugute kommen sollten. Der Staat solle ein Zwangsrecht
haben, wo ohne Uebung desselben bedrohliche Zustände herbeigeführt werden
könnten.

Nach der Rede von Dr. A. Meyer vertheidigte noch Bürgermeister v. Lin¬
singen aus Ueltzen die Gemeindebehörden gegen die Angriffe von Seiten der
Gewerkvereine. Die Vertreter der kleinen Städte Hannovers hätten auf den
dringenden Wunsch der Arbeiter selbst die Beibehaltung der Zwangseassen
befürwortet, die dort seit 30 Jahren beständen und aus denen die alten Ar¬
beiter jetzt Unterstützung erwarteten, während die jungen von neuen Ideen
erfüllten Gesellen nicht zahlen wollten. Die freien Cassen würden sich nicht
bewähren und den Gemeinden die Sorge für die unterstützungsbedürftigen
Arbeiter überlassen. Der Zwang müsse und werde einst fallen; jetzt sei man
aber noch nicht so weit, um ihn aufheben zu können, denn der Arbeiter sei
sich seiner wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit noch nicht bewußt.

Nach erfolgtem Schluß der Debatte resumirte Stadtrath Rickert die De¬
batte. Der Ruf nach gewerblichen Zwangseassen sei nur eine Wirkung der
Furcht vor den Strikecassen der Gewerkvereine, es fehle aber der Nachweis,
die Zwangseassen in wirksamer Weise einführen zu können und die dagegen
erhobenen Bedenken seien nicht widerlegt worden. Man möge doch einmal
den Weg der Freiwilligkeit versuchen; ehe dies nicht geschehen, dürfe man
nicht für einen Theil der Arbeiter ein Ausnahmegesetz schaffen. Die Reso¬
lution, welche die Herren Eras und Oppenheim vorschlugen, erscheine ver¬
früht. Die Frage wegen der Arbeitshäuser möge dem nächsten Congreß vor¬
behalten bleiben. Professor Böhmert sprach sich ebenfalls für Vertagung der
Frage wegen der Arbeitshäuser aus und polemisirte gegen die Ausführungen
des Herrn Dr. Wolff und Dr. A. Meyer, womit dieselben von früher be¬
kannten Grundsätzen zurücktraten.

Durch die Anordnung von Zwangseassen greife der Staat in die Lohn¬
frage ein. Die Höhe des Lohnes werde durch Zwangsbeiträge der Unter¬
nehmer künstlich verdeckt, was beiden Theilen nachtheilig sei und namentlich
nicht angehe, wenn eine Industrie am Weltmarkt sich betheilige, wo doch die
Industrien anderer Länder ohne die Belastung der Unternehmer durch Zwangs¬
beiträge mit ihnen concurriren. — Dr. Eras zog den von ihm in Gemein¬
schaft mit Oppenheim gestellten Antrag zurück. Bei der schließlichen Abstim¬
mung wurden die von Rickert und Böhmert gestellten Anträge fast einstimmig
angenommen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/33>, abgerufen am 25.08.2024.