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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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ihrem Candidaten unterlegen. Dabei machte man die Wahrnehmung, daß die
strebsamen Mitglieder der bisherigen Volkspartei jetzt unter der Firma des
neu begründeten "freien Wahlvereins" bessere Geschäfte zu machen hoffen, als
unter der Fahne des Beobachters. Aber auch die bisherige "deutsche Partei"
ist trotz dieses neuesten Siegs'unverkennbar in einem Zustand der Auflösung.
In den Jahren des erbitterten Kampfes 1866--70 aus Elementen der ver¬
schiedensten Lebens- und Parteistellungen zusammengeschmiedet durch die natio¬
nale Idee, welche die sonst vorhandenen Gegensätze zurücktreten ließ, mußte
dieser Verband von dem Augenblick an gelockert werden, wo das Ziel der
bisherigen Bestrebungen mit der Errichtung des Reichs gesichert war. Die
bisherige Einheit ist zwar nach wie vor im Allgemeinen vorhanden, aber sie
kann nicht mehr zur Grundlage einer Parteibildung dienen, in einer Zeit, in
der es außer den Ultramontanen an einem Gegner fehlt, der einen weiteren
Kampf lohnen würde. Wir wollen damit nicht leugnen, daß in gewissen
tonangebenden Kreisen Stuttgarts noch eine bitterböse Stimmung gegen die
neuen Verhältnisse herrscht, welche auch bei der mit dem größten Mißtrauen
verfolgten Anwesenheit des deutschen Kronprinzen sich offenbarte, aber was
sie zu Tage fördert, sind doch nur unschädliche Spielereien, kleinliche Malicen
oder harmlose Rückerinnerungen an vergangene Größe. Müssen doch jetzt selbst
die Männer der Hofpartei "rückhaltslose Hingebung" an das Reich zur Schau
tragen und können sie ihrer wahren Gesinnung nur noch unter verschlossenem
Couvert durch die Wahl demokratischer Candidaten Ausdruck geben. Wir
haben deßhalb auch bisher die von dieser Partei herbeigeführte Berufung
v. Sicks in das Ministerium mit Stillschweigen übergangen. Denn Sick kann
trotz aller Vielrednerei und Vielgeschäftigkeit weder in Stuttgart noch in
Berlin jemals eine parlamentarische Bedeutung neben v. Mittnacht erlangen,
der seinem Collegen durch seine kalte Ruhe und durch die Sicherheit des
Handelns weit überlegen ist: Sick ist vielmehr die lebendige Personifikation
des Gegensatzes von Können und Wollen, welcher dermalen den Rest der
reichsfeindlichen Elemente in Schwaben charakterisirt. Andererseits ist er ganz
besonders geeignet, bei der neuesten Entwicklung unserer inneren Verhältnisse
die Pathenstelle zu versehen. Je mehr nämlich das deutsche Reich sich zum
Staatsganzen herausbildet, um so mehr tritt in denjenigen Sphären der
bisherigen Staatsthätigkeit, welche vom Reiche nicht berührt werden, wiederum
jener patnmoniale und patriarchalische Charakter in den Vordergrund, welcher
in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts der öffentlichen Ver¬
waltung in den Territorien der Mediatisirten eigen war. Dem Staats¬
dienst wird mehr und mehr der Stempel des fürstlichen Dienstes aufgedrückt;
man interessirt sich von Oben für die Person jedes Einzelnen mit jener liebes¬
würdigen Theilnahme und Fürsorge, welche dem kalten büreaukratischen


ihrem Candidaten unterlegen. Dabei machte man die Wahrnehmung, daß die
strebsamen Mitglieder der bisherigen Volkspartei jetzt unter der Firma des
neu begründeten „freien Wahlvereins" bessere Geschäfte zu machen hoffen, als
unter der Fahne des Beobachters. Aber auch die bisherige „deutsche Partei"
ist trotz dieses neuesten Siegs'unverkennbar in einem Zustand der Auflösung.
In den Jahren des erbitterten Kampfes 1866—70 aus Elementen der ver¬
schiedensten Lebens- und Parteistellungen zusammengeschmiedet durch die natio¬
nale Idee, welche die sonst vorhandenen Gegensätze zurücktreten ließ, mußte
dieser Verband von dem Augenblick an gelockert werden, wo das Ziel der
bisherigen Bestrebungen mit der Errichtung des Reichs gesichert war. Die
bisherige Einheit ist zwar nach wie vor im Allgemeinen vorhanden, aber sie
kann nicht mehr zur Grundlage einer Parteibildung dienen, in einer Zeit, in
der es außer den Ultramontanen an einem Gegner fehlt, der einen weiteren
Kampf lohnen würde. Wir wollen damit nicht leugnen, daß in gewissen
tonangebenden Kreisen Stuttgarts noch eine bitterböse Stimmung gegen die
neuen Verhältnisse herrscht, welche auch bei der mit dem größten Mißtrauen
verfolgten Anwesenheit des deutschen Kronprinzen sich offenbarte, aber was
sie zu Tage fördert, sind doch nur unschädliche Spielereien, kleinliche Malicen
oder harmlose Rückerinnerungen an vergangene Größe. Müssen doch jetzt selbst
die Männer der Hofpartei „rückhaltslose Hingebung" an das Reich zur Schau
tragen und können sie ihrer wahren Gesinnung nur noch unter verschlossenem
Couvert durch die Wahl demokratischer Candidaten Ausdruck geben. Wir
haben deßhalb auch bisher die von dieser Partei herbeigeführte Berufung
v. Sicks in das Ministerium mit Stillschweigen übergangen. Denn Sick kann
trotz aller Vielrednerei und Vielgeschäftigkeit weder in Stuttgart noch in
Berlin jemals eine parlamentarische Bedeutung neben v. Mittnacht erlangen,
der seinem Collegen durch seine kalte Ruhe und durch die Sicherheit des
Handelns weit überlegen ist: Sick ist vielmehr die lebendige Personifikation
des Gegensatzes von Können und Wollen, welcher dermalen den Rest der
reichsfeindlichen Elemente in Schwaben charakterisirt. Andererseits ist er ganz
besonders geeignet, bei der neuesten Entwicklung unserer inneren Verhältnisse
die Pathenstelle zu versehen. Je mehr nämlich das deutsche Reich sich zum
Staatsganzen herausbildet, um so mehr tritt in denjenigen Sphären der
bisherigen Staatsthätigkeit, welche vom Reiche nicht berührt werden, wiederum
jener patnmoniale und patriarchalische Charakter in den Vordergrund, welcher
in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts der öffentlichen Ver¬
waltung in den Territorien der Mediatisirten eigen war. Dem Staats¬
dienst wird mehr und mehr der Stempel des fürstlichen Dienstes aufgedrückt;
man interessirt sich von Oben für die Person jedes Einzelnen mit jener liebes¬
würdigen Theilnahme und Fürsorge, welche dem kalten büreaukratischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/322>, abgerufen am 05.02.2025.