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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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jedes größere Etablissement verpflichten eine Casse einzurichten, in welche die
Arbeiter mitzahlten und die sie mitverwalteten. So würde das Gehässige des
Zwanges doch wohl in einem milderen Lichte erscheinen.

Der auf Wolfs folgende Dr. Eras von Breslau verhehlte nicht, daß die
eben gehörte Rede einen peinlichen Eindruck auf ihn gemacht habe. Dieselben
Motive ließen sich auch für ein gemäßigtes Einzugsgeld anführen. Die Cassen
mit niedriger Einlage und Beitrag könnten nichts erreichen ; mache man Ein¬
lage und Beitrag groß, so habe man ein für einen freihändlerischen volks-
wirthschaftlichen Congreß geschmackvoll zugestutztes Zuzugsgeld. Der tiefere
Grund des Conflicts zwischen Freizügigkeit und Armenpflege sei der Reiz der
großen Städte für Leute, die sich ihrer schwachen Productionskraft bewußt
seien. Dergleichen Leute könnten sich auf dem platten Lande schwer einen
behaglichen Zustand verschaffen; in der großen Stadt finde man leichter ein
Unterkommen und allerlei Zuschüsse zu seinem Lebensvedarf, die schmackhafter
seien, als das auf dem Lande gereichte Almosen. Dieser Zuzug des Proleta¬
riats sei wesentlich also eine Folge der Sentimentalität, die im städtischen
Armenwesen herrschte. Im Breslauer Asyl sür Obdachlose bilde dieses Pro¬
letariat den Haupttheil der Gäste. Hier sei der Angriffspunkt in dieser Frage
zu suchen. Was die Organisation der Zwangscassen anlange, so weise Dr.
Wolff auf das relativ Gute der Knappschaftscassen hin; er kenne dieselben
aus dem Ruhrdistrict her, er selbst habe dort einer Enquete-Commission bei¬
gewohnt, und in dieser war man der Ansicht, daß die Knappschaftscassen nicht
zum Muster für Gewerbshülfscassen dienen könnten. Der Mangel der Frei¬
zügigkeit, welcher dieselben charakterisire, wurde als arger Mißstand bezeichnet.
Auch Oberberghauptmann von Carnall in Breslau theile die Ansicht von der
Trefflichkeit der Knappschaftscassen nicht. Die Gesetzgebung habe für bessere
Garantien zu sorgen, wozu die Normativbedingungen Gelegenheit böten.
Eine Controle der Verwendung müsse gegeben sein. Die Strikes gingen nicht
so harmlos vor sich, wie ein Romanschriftsteller es sich vielleicht ausmale. Die
Mehrzahl derselben werden mittelst unerhörten Zwangs zu Stande gebracht,
und die Freiheit Strikecassen zu gründen unter einem andern Vorwande dürfe
nicht als Ausfluß der wirthschaftlichen Freiheit geschützt, sondern müsse vom
Gesetzgeber als die Organisation des Zwanges verhindert werden. Die Reso¬
lution, welche er vorschlage, lege den Finger in die Wunde und würde eher
verstanden werden als die Resolution des Referenten. Sie lautet: "1) Die
seit Einführung der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit beobachtete vermehrte
Belästigung größerer Städte durch Proletariat ist mittelst Einführung von
Zwangshülfseassen nicht zu beseitigen, sondern nur durch eine rationellere
Handhabung der Armenpflege und durch Unterbringung der arbeitsfähigen
Unterstützungssuchenden in Arbeitshäusern zu heben. 2) Das Arbeiter-Hülff-


jedes größere Etablissement verpflichten eine Casse einzurichten, in welche die
Arbeiter mitzahlten und die sie mitverwalteten. So würde das Gehässige des
Zwanges doch wohl in einem milderen Lichte erscheinen.

Der auf Wolfs folgende Dr. Eras von Breslau verhehlte nicht, daß die
eben gehörte Rede einen peinlichen Eindruck auf ihn gemacht habe. Dieselben
Motive ließen sich auch für ein gemäßigtes Einzugsgeld anführen. Die Cassen
mit niedriger Einlage und Beitrag könnten nichts erreichen ; mache man Ein¬
lage und Beitrag groß, so habe man ein für einen freihändlerischen volks-
wirthschaftlichen Congreß geschmackvoll zugestutztes Zuzugsgeld. Der tiefere
Grund des Conflicts zwischen Freizügigkeit und Armenpflege sei der Reiz der
großen Städte für Leute, die sich ihrer schwachen Productionskraft bewußt
seien. Dergleichen Leute könnten sich auf dem platten Lande schwer einen
behaglichen Zustand verschaffen; in der großen Stadt finde man leichter ein
Unterkommen und allerlei Zuschüsse zu seinem Lebensvedarf, die schmackhafter
seien, als das auf dem Lande gereichte Almosen. Dieser Zuzug des Proleta¬
riats sei wesentlich also eine Folge der Sentimentalität, die im städtischen
Armenwesen herrschte. Im Breslauer Asyl sür Obdachlose bilde dieses Pro¬
letariat den Haupttheil der Gäste. Hier sei der Angriffspunkt in dieser Frage
zu suchen. Was die Organisation der Zwangscassen anlange, so weise Dr.
Wolff auf das relativ Gute der Knappschaftscassen hin; er kenne dieselben
aus dem Ruhrdistrict her, er selbst habe dort einer Enquete-Commission bei¬
gewohnt, und in dieser war man der Ansicht, daß die Knappschaftscassen nicht
zum Muster für Gewerbshülfscassen dienen könnten. Der Mangel der Frei¬
zügigkeit, welcher dieselben charakterisire, wurde als arger Mißstand bezeichnet.
Auch Oberberghauptmann von Carnall in Breslau theile die Ansicht von der
Trefflichkeit der Knappschaftscassen nicht. Die Gesetzgebung habe für bessere
Garantien zu sorgen, wozu die Normativbedingungen Gelegenheit böten.
Eine Controle der Verwendung müsse gegeben sein. Die Strikes gingen nicht
so harmlos vor sich, wie ein Romanschriftsteller es sich vielleicht ausmale. Die
Mehrzahl derselben werden mittelst unerhörten Zwangs zu Stande gebracht,
und die Freiheit Strikecassen zu gründen unter einem andern Vorwande dürfe
nicht als Ausfluß der wirthschaftlichen Freiheit geschützt, sondern müsse vom
Gesetzgeber als die Organisation des Zwanges verhindert werden. Die Reso¬
lution, welche er vorschlage, lege den Finger in die Wunde und würde eher
verstanden werden als die Resolution des Referenten. Sie lautet: „1) Die
seit Einführung der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit beobachtete vermehrte
Belästigung größerer Städte durch Proletariat ist mittelst Einführung von
Zwangshülfseassen nicht zu beseitigen, sondern nur durch eine rationellere
Handhabung der Armenpflege und durch Unterbringung der arbeitsfähigen
Unterstützungssuchenden in Arbeitshäusern zu heben. 2) Das Arbeiter-Hülff-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/31>, abgerufen am 25.08.2024.