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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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zuweisen, daß man die Industrie mehr durch Zwangsinstitute beschränken solle,
während sich das freie Cassenwesen der Arbeiter schon nach allen Richtungen
hin entwickle. Nicht die Arbeiterbevölkerung rufe die Bedrängniß der Ge¬
meinden durch Zunahme der Armuth hervor, die Industrie vermindere um¬
gekehrt gerade die Armuth. Die armen Gemeinden der Schweiz flehten in
Zeitungsinseraten förmlich um Begründung von Fabriken und versprechen den
Unternehmern alle möglichen Erleichterungen. Professor Kinkelin in Basel
habe über den Stand der gegenseitigen Hülfsgesellschaften der Schweiz im
Jahre 1865 berichtet. Es bestanden damals 632 Hülfsvereine mit mehr als
96,000 Mitgliedern. Die Einnahmen betrugen 1865: 1,529,098 Franken und
die Ausgaben 1,059,418 Franken. Nur in seltenen Fällen sei der Beitritt
zu diesen Cassen obligatorisch in Folge von Reglements von öffentlichen Be¬
hörden, von Eisenbahnverwaltungen, Fabrikbesitzern ze. Die große Mehrzahl
dieser Cassen beruhen auf Freiwilligkeit. Das Sparen sei eine sittliche That;
zu einer solchen dürfe man Niemanden zwingen, sie wolle in der Freiheit voll¬
bracht sein. Jeder Zwang nehme dem Arbeiter die Freudigkeit. In vielen
Fällen sei die Abführung des ersparten Geldes an eine obligatorische Hülfs-
casse absolut unwirthschaftlich. Der Fabrikarbeiter wolle vielleicht später zur
Landwirthschaft übergehen und da kommen ihm seine Ersparnisse besser zu
gute. Ein anderer Arbeiter wolle seine alten Eltern unterstützen; ein dritter
seinen Kindern eine bessere Erziehung angedeihen lassen. Viel besser wäre es
im Allgemeinen für den Arbeiter jedenfalls, zur Gewinnung einer eigenen
Häuslichkeit sich die Mittel zu sparen. Also fort mit solchem Schablonenhaften
Zwange! Auch bei den Arbeitgebern werde die Freiwilligkeit der Leistungen
für die Arbeiter diesen weit mehr nützen, da sich die Leistungen dann den
jedesmaligen Verhältnissen besser anpassen würden. Die sociale Zukunft könne
vielleicht dahin führen, daß die Arbeiter nur bei solchen Unternehmern arbeiten
wollen, welche statutarische Rechte auf Antheil von Gewinnüberschüffen ein¬
räumen oder doch mindestens Reservefonds ansammeln, aus denen die Arbeiter
in bestimmten Fällen Unterstützung empfangen. Die Selbsthülfe der Arbeiter
verfahre viel schöpferischer als dem Staat möglich sei. Man solle daher von
einem directen Eingreifen der Staatsgewalt "brachen und dafür die positiven
Aufgaben der Arbeiter, der Unternehmer und des Publicums nachdrücklich be¬
tonen. Der Arbeiter müsse wirthschaftlich gebildet und daran gewöhnt werden,
sich selbst zu versichern. Die freiwilligen Cassen sollten bezirksweise organiftrt
werden, es müsse die Freizügigkeit der Arbeiter den Cassen gegenüber gesichert
sein, indem der Versicherungsschein vielleicht für den Fall des Wegzugs rück¬
käuflich gemacht werde. Die Verficherungs- und Hülfscasfen müßten vor Allem
individuell gehalten werden, damit kein Mitglied feiner Beiträge wieder ver¬
lustig werde. Die Unternehmer sollten einzeln oder in Genossenschaften sich


zuweisen, daß man die Industrie mehr durch Zwangsinstitute beschränken solle,
während sich das freie Cassenwesen der Arbeiter schon nach allen Richtungen
hin entwickle. Nicht die Arbeiterbevölkerung rufe die Bedrängniß der Ge¬
meinden durch Zunahme der Armuth hervor, die Industrie vermindere um¬
gekehrt gerade die Armuth. Die armen Gemeinden der Schweiz flehten in
Zeitungsinseraten förmlich um Begründung von Fabriken und versprechen den
Unternehmern alle möglichen Erleichterungen. Professor Kinkelin in Basel
habe über den Stand der gegenseitigen Hülfsgesellschaften der Schweiz im
Jahre 1865 berichtet. Es bestanden damals 632 Hülfsvereine mit mehr als
96,000 Mitgliedern. Die Einnahmen betrugen 1865: 1,529,098 Franken und
die Ausgaben 1,059,418 Franken. Nur in seltenen Fällen sei der Beitritt
zu diesen Cassen obligatorisch in Folge von Reglements von öffentlichen Be¬
hörden, von Eisenbahnverwaltungen, Fabrikbesitzern ze. Die große Mehrzahl
dieser Cassen beruhen auf Freiwilligkeit. Das Sparen sei eine sittliche That;
zu einer solchen dürfe man Niemanden zwingen, sie wolle in der Freiheit voll¬
bracht sein. Jeder Zwang nehme dem Arbeiter die Freudigkeit. In vielen
Fällen sei die Abführung des ersparten Geldes an eine obligatorische Hülfs-
casse absolut unwirthschaftlich. Der Fabrikarbeiter wolle vielleicht später zur
Landwirthschaft übergehen und da kommen ihm seine Ersparnisse besser zu
gute. Ein anderer Arbeiter wolle seine alten Eltern unterstützen; ein dritter
seinen Kindern eine bessere Erziehung angedeihen lassen. Viel besser wäre es
im Allgemeinen für den Arbeiter jedenfalls, zur Gewinnung einer eigenen
Häuslichkeit sich die Mittel zu sparen. Also fort mit solchem Schablonenhaften
Zwange! Auch bei den Arbeitgebern werde die Freiwilligkeit der Leistungen
für die Arbeiter diesen weit mehr nützen, da sich die Leistungen dann den
jedesmaligen Verhältnissen besser anpassen würden. Die sociale Zukunft könne
vielleicht dahin führen, daß die Arbeiter nur bei solchen Unternehmern arbeiten
wollen, welche statutarische Rechte auf Antheil von Gewinnüberschüffen ein¬
räumen oder doch mindestens Reservefonds ansammeln, aus denen die Arbeiter
in bestimmten Fällen Unterstützung empfangen. Die Selbsthülfe der Arbeiter
verfahre viel schöpferischer als dem Staat möglich sei. Man solle daher von
einem directen Eingreifen der Staatsgewalt «brachen und dafür die positiven
Aufgaben der Arbeiter, der Unternehmer und des Publicums nachdrücklich be¬
tonen. Der Arbeiter müsse wirthschaftlich gebildet und daran gewöhnt werden,
sich selbst zu versichern. Die freiwilligen Cassen sollten bezirksweise organiftrt
werden, es müsse die Freizügigkeit der Arbeiter den Cassen gegenüber gesichert
sein, indem der Versicherungsschein vielleicht für den Fall des Wegzugs rück¬
käuflich gemacht werde. Die Verficherungs- und Hülfscasfen müßten vor Allem
individuell gehalten werden, damit kein Mitglied feiner Beiträge wieder ver¬
lustig werde. Die Unternehmer sollten einzeln oder in Genossenschaften sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/28>, abgerufen am 22.07.2024.