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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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schaffen. Welche Vorstellung sich der Zigeuner vom Gotte der Christen macht,
wollen wir nach Liebich an zwei Beispielen zeigen. Er unterscheidet zwischen
"Baro Puro Dewel", d. i. dem großen, alten Gott, und "Dikno Tarro
Dewel", d. i. dem kleinen, jungen Gott. Jener ist nach seiner Meinung
schon längst gestorben, und statt seiner wird die Welt jetzt von dem kleinen
jungen Gott regiert. Dieser ist aber nicht etwa der Sohn seines Vorgängers
auf dem Himmelsthrone, sondern der eines armen Zimmermanns und hat
das Weltregiment mit Gewalt an sich gebracht. Nach Andern indeß lebt der
alte Gott noch, hat aber abgedankt und sich, weil er schwach und müde ge¬
worden, gleichsam auss Altentheil zurückgezogen. Die Dreieinigkeit sodann
ist für den Zigeunerverstand gar nicht vorhanden. Ein sonst recht kluger
Zigeuner bezeichnete den Satz in unserem Glaubensbekenntniß: "Der empfangen
ist vom heiligen Geiste" als nicht übersetzbar in seine Sprache und deshalb
als unverständlich sür ihn.

Dürftig ist die Poesie der Zigeuner. Ihre Lieder, die von Mund zu
Mund gehen, sind fast ausnahmslos kindischen und armseligen Inhalts und
selbstverständlich sehr mangelhaft in der Form. Wer etwas davon kennen
zu lernen wünscht, dem empfehlen wir die Proben, welche Liebich gesammelt
hat. Es ist aber nichts von Werth darunter.

DieErwerbszweigeder Zigeuner sind wechselnder und vielgestaltiger Art.
Mit besonderer Vorliebe werden sie Musikanten, Metallarbeiter und Seil¬
tänzer. Ihr Talent zur Musik ist unzweifelhaft. In kurzer Zeit lernen sie,
lediglich durch Nachahmen und Nachhören Trompete und Horn, Flöte und
Clarinette zu blasen, namentlich aber die Violine zu spielen und zwar mit
Meisterschaft. Selbst der einfachen Maultrommel wissen sie wunderbare Laute
zu entlocken. Die ihnen eigenthümlichen Weisen sind reich an Melodie, feurig,
wild und stürmisch und dabei wieder zart, weich und wehmüthig, frei von
aller Künstelei und voll von Contrasten, die sie auf eine selbst den feinge¬
bildeten Musiker überraschende Weise zu lösen verstehen. Als Schmiede und
Schlosser zeigen sie ungemeine Geschicklichkeit, desgleichen in der Verfertigung
von Drahtgeflechten, Sieben, Mäusefallen, Vogelkäfigen und Ketten. Aller¬
liebst sind ihre Schnitzereien aus Maßholder und Nußbaum, ihre Stöcke aus
Eichenholz oder Weißdorn, ihre Löffel, Schüsseln und Becher aus Ahorn und
Linde. Die Gelenkigkeit und Schmiegsamkeit seiner Glieder macht ihn beson¬
ders geeignet zur Erlernung und Ausübung aller gymnastischen Künste, und
so gehören nicht wenige der Seiltänzer und Taschenspieler zweiten und dritten
Ranges, die sich auf unsern Jahrmärkten und Vogelschießen produciren, dem
Volke der Zigeuner an. Nicht selten endlich reisen Zigeuner auch als Kammer¬
jäger von Ort zu Ort. -- Neben diesen mehr oder minder ehrenwerthen Gewerben
betreiben fast alle Zigeuner noch allerlei andere, die mehr oder minder auf Tau-


schaffen. Welche Vorstellung sich der Zigeuner vom Gotte der Christen macht,
wollen wir nach Liebich an zwei Beispielen zeigen. Er unterscheidet zwischen
„Baro Puro Dewel", d. i. dem großen, alten Gott, und „Dikno Tarro
Dewel", d. i. dem kleinen, jungen Gott. Jener ist nach seiner Meinung
schon längst gestorben, und statt seiner wird die Welt jetzt von dem kleinen
jungen Gott regiert. Dieser ist aber nicht etwa der Sohn seines Vorgängers
auf dem Himmelsthrone, sondern der eines armen Zimmermanns und hat
das Weltregiment mit Gewalt an sich gebracht. Nach Andern indeß lebt der
alte Gott noch, hat aber abgedankt und sich, weil er schwach und müde ge¬
worden, gleichsam auss Altentheil zurückgezogen. Die Dreieinigkeit sodann
ist für den Zigeunerverstand gar nicht vorhanden. Ein sonst recht kluger
Zigeuner bezeichnete den Satz in unserem Glaubensbekenntniß: „Der empfangen
ist vom heiligen Geiste" als nicht übersetzbar in seine Sprache und deshalb
als unverständlich sür ihn.

Dürftig ist die Poesie der Zigeuner. Ihre Lieder, die von Mund zu
Mund gehen, sind fast ausnahmslos kindischen und armseligen Inhalts und
selbstverständlich sehr mangelhaft in der Form. Wer etwas davon kennen
zu lernen wünscht, dem empfehlen wir die Proben, welche Liebich gesammelt
hat. Es ist aber nichts von Werth darunter.

DieErwerbszweigeder Zigeuner sind wechselnder und vielgestaltiger Art.
Mit besonderer Vorliebe werden sie Musikanten, Metallarbeiter und Seil¬
tänzer. Ihr Talent zur Musik ist unzweifelhaft. In kurzer Zeit lernen sie,
lediglich durch Nachahmen und Nachhören Trompete und Horn, Flöte und
Clarinette zu blasen, namentlich aber die Violine zu spielen und zwar mit
Meisterschaft. Selbst der einfachen Maultrommel wissen sie wunderbare Laute
zu entlocken. Die ihnen eigenthümlichen Weisen sind reich an Melodie, feurig,
wild und stürmisch und dabei wieder zart, weich und wehmüthig, frei von
aller Künstelei und voll von Contrasten, die sie auf eine selbst den feinge¬
bildeten Musiker überraschende Weise zu lösen verstehen. Als Schmiede und
Schlosser zeigen sie ungemeine Geschicklichkeit, desgleichen in der Verfertigung
von Drahtgeflechten, Sieben, Mäusefallen, Vogelkäfigen und Ketten. Aller¬
liebst sind ihre Schnitzereien aus Maßholder und Nußbaum, ihre Stöcke aus
Eichenholz oder Weißdorn, ihre Löffel, Schüsseln und Becher aus Ahorn und
Linde. Die Gelenkigkeit und Schmiegsamkeit seiner Glieder macht ihn beson¬
ders geeignet zur Erlernung und Ausübung aller gymnastischen Künste, und
so gehören nicht wenige der Seiltänzer und Taschenspieler zweiten und dritten
Ranges, die sich auf unsern Jahrmärkten und Vogelschießen produciren, dem
Volke der Zigeuner an. Nicht selten endlich reisen Zigeuner auch als Kammer¬
jäger von Ort zu Ort. — Neben diesen mehr oder minder ehrenwerthen Gewerben
betreiben fast alle Zigeuner noch allerlei andere, die mehr oder minder auf Tau-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/216>, abgerufen am 04.07.2024.