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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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lichkeit ihrer Plane ab, die Frage der Balkanhalbinsel zu lösen, und die Aus¬
sichten der Centralisationspartei hängen wiederum von dem Geschick ab, das
letztere in der Lenkung der großen Politik und in der Organisation der all¬
gemeinen Staatskraft für die Lösung jener Aufgabe zeigt. Es wäre mit
Oesterreich und Ungarn gleichmäßig zu Ende, wenn beiden Parteien die Fä¬
higkeit zur Lösung dieser Aufgabe fehlte. Aber der Sieg der Parteien hängt
nicht von ihrer eigenen Fähigkeit allein, er hängt auch von der Empfänglich¬
keit des Bodens, auf dem sie wirken, für das Wahre ab. Wenn die separa¬
tistischen Parteien trotz ihrer Unfähigkeit die Oberhand gewännen, wenn die
centralistische Partei ihren etwaigen Sieg nicht sür das wahre Lebensinteresse
des Reiches zu verwerthen wüßte, dann wäre mit der Verfehlung der äußeren
Aufgabe des Reiches auch die innere Heilung abgeschnitten. So hängt das
Schicksal Oesterreichs an beiden: daß die Fähigkeit sür die äußere Aufgabe
der Sieg im Innern entscheide, aber auch bei dem Sieger die wahren Mittel
der inneren Regeneration antreffe; und umgekehrt, daß die Partei, welche diese
Mittel inne hat und auffindet, sich auch der äußeren Aufgabe gewachsen
zeige.

In Ungarn sind augenblicklich 3 bis 4 Parteien zu unterscheiden. Auf
einem völlig phantastischen Boden steht die äußerste Linke. Ihre Motive sind
grenzenloser Haß gegen Oesterreich, aber auch gegen die einheimische Aristo¬
kratie, und zuletzt der kosmopolitische Haß des Radicalismus gegen die be¬
stehende Weltordnung. Diese Partei, soweit sie noch specifisch ungarisch gefärbt
ist, trägt sich mit dem Gedanken einer Verbrüderung mit den südslavischen
Völkerschaften auf der Basis der äußersten Demokratie, oder auch des Com¬
munismus. Die ungarisch-slavische Republik, von der zuweilen die Rumänen
nicht ausgenommen sind, soll auf beiden Ufern der Donau und südlich bis
zum Balkan sich erstrecken. -- Dergleichen Phantastereien könnten als un¬
schädlich gelten, wenn sie nicht überall, wo sie sich verbreiten, einen Theil der
geistigen Kraft von gesunden Bestrebungen ablenkten.

Diejenige Partei, welche äußerlich angesehen die nächste Nachbarin der
äußersten Linken in Ungarn ist, bildet im Grunde in gewisser Beziehung deren
schärfsten Gegensatz. Die eigentliche Linke nämlich ist erclufiv national, weit
mehr als die Deakpartei. Die eigentliche Linke will völlige Trennung von
Oesterreich in der äußeren und inneren Politik, indem sie höchstens die Per¬
sonalunion zuläßt. Dieses selbstständige Ungarn aber soll ganz national or-
ganisirt sein, das heißt: die Magyaren sollen als eine einzige unterschiedslose
Aristokratie die übrigen Völkerschaften des Donaureiches beherrschen. Diese
Partei ist der Türkei gegenüber am conservativsten, weil sie von der Eman¬
cipation der südslavischen Elemente in der Türkei die Verstärkung derselben
Elemente auf dem Boden Ungarns fürchtet.


lichkeit ihrer Plane ab, die Frage der Balkanhalbinsel zu lösen, und die Aus¬
sichten der Centralisationspartei hängen wiederum von dem Geschick ab, das
letztere in der Lenkung der großen Politik und in der Organisation der all¬
gemeinen Staatskraft für die Lösung jener Aufgabe zeigt. Es wäre mit
Oesterreich und Ungarn gleichmäßig zu Ende, wenn beiden Parteien die Fä¬
higkeit zur Lösung dieser Aufgabe fehlte. Aber der Sieg der Parteien hängt
nicht von ihrer eigenen Fähigkeit allein, er hängt auch von der Empfänglich¬
keit des Bodens, auf dem sie wirken, für das Wahre ab. Wenn die separa¬
tistischen Parteien trotz ihrer Unfähigkeit die Oberhand gewännen, wenn die
centralistische Partei ihren etwaigen Sieg nicht sür das wahre Lebensinteresse
des Reiches zu verwerthen wüßte, dann wäre mit der Verfehlung der äußeren
Aufgabe des Reiches auch die innere Heilung abgeschnitten. So hängt das
Schicksal Oesterreichs an beiden: daß die Fähigkeit sür die äußere Aufgabe
der Sieg im Innern entscheide, aber auch bei dem Sieger die wahren Mittel
der inneren Regeneration antreffe; und umgekehrt, daß die Partei, welche diese
Mittel inne hat und auffindet, sich auch der äußeren Aufgabe gewachsen
zeige.

In Ungarn sind augenblicklich 3 bis 4 Parteien zu unterscheiden. Auf
einem völlig phantastischen Boden steht die äußerste Linke. Ihre Motive sind
grenzenloser Haß gegen Oesterreich, aber auch gegen die einheimische Aristo¬
kratie, und zuletzt der kosmopolitische Haß des Radicalismus gegen die be¬
stehende Weltordnung. Diese Partei, soweit sie noch specifisch ungarisch gefärbt
ist, trägt sich mit dem Gedanken einer Verbrüderung mit den südslavischen
Völkerschaften auf der Basis der äußersten Demokratie, oder auch des Com¬
munismus. Die ungarisch-slavische Republik, von der zuweilen die Rumänen
nicht ausgenommen sind, soll auf beiden Ufern der Donau und südlich bis
zum Balkan sich erstrecken. — Dergleichen Phantastereien könnten als un¬
schädlich gelten, wenn sie nicht überall, wo sie sich verbreiten, einen Theil der
geistigen Kraft von gesunden Bestrebungen ablenkten.

Diejenige Partei, welche äußerlich angesehen die nächste Nachbarin der
äußersten Linken in Ungarn ist, bildet im Grunde in gewisser Beziehung deren
schärfsten Gegensatz. Die eigentliche Linke nämlich ist erclufiv national, weit
mehr als die Deakpartei. Die eigentliche Linke will völlige Trennung von
Oesterreich in der äußeren und inneren Politik, indem sie höchstens die Per¬
sonalunion zuläßt. Dieses selbstständige Ungarn aber soll ganz national or-
ganisirt sein, das heißt: die Magyaren sollen als eine einzige unterschiedslose
Aristokratie die übrigen Völkerschaften des Donaureiches beherrschen. Diese
Partei ist der Türkei gegenüber am conservativsten, weil sie von der Eman¬
cipation der südslavischen Elemente in der Türkei die Verstärkung derselben
Elemente auf dem Boden Ungarns fürchtet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/518>, abgerufen am 29.06.2024.