Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.Herrscher des europäischen Osten stehen wieder innig verbunden neben einander Die ausländische Presse bringt vergebens Gründe für den Zerfall der Noch weit kleinlicher wie der Verdacht, es handle sich um eine Verschwö¬ Herrscher des europäischen Osten stehen wieder innig verbunden neben einander Die ausländische Presse bringt vergebens Gründe für den Zerfall der Noch weit kleinlicher wie der Verdacht, es handle sich um eine Verschwö¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128402"/> <p xml:id="ID_1603" prev="#ID_1602"> Herrscher des europäischen Osten stehen wieder innig verbunden neben einander<lb/> zur Abwehr gegen Anarchie und phantastische Verirrungen der keltischen Aben¬<lb/> teuerlichkeit; aber mit dem tiefgreifenden Unterschiede gegen früher, daß sie in<lb/> ihre innere Negierungspolitik allseitig die Förderung der natürlichen Entwick¬<lb/> lung der Völker, anstatt der kurzsichtigen Niederhaltung derselben, wie einstens,<lb/> aufgenommen haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1604"> Die ausländische Presse bringt vergebens Gründe für den Zerfall der<lb/> neuen ostmächtlichen Allianz herbei, die in der freien Sympathie der Herrscher<lb/> beruht und in den jetzigen Festlichkeiten zu Berlin einen so imposanten Aus¬<lb/> druck erhält. Immer wieder wird der Zwiespalt der russischen und öster¬<lb/> reichischen Interessen in der orientalischen Frage hervorgesucht. Neuerdings<lb/> eignet sogar die „Times" sich dieses Thema an, was zu erklären ist aus der<lb/> in England theilweis herrschenden Furcht, Oesterreich möchte dazu gebracht<lb/> werden, den englischen Bemühungen für die Aufrechthaltung der Türkei nicht<lb/> ferner wie bisher zu secundiren. Es bedarf dazu jedoch keiner besonderen<lb/> Mittel. Wenn sich im Innern des türkischen Reiches Kräfte erheben, stark<lb/> genug, das morsche, aber immer noch wuchtige Gebäude aus den Angeln zu heben,<lb/> so wird keine der Ostmächte den Wunsch haben, wie noch bei dem griechischen<lb/> Aufstand der zwanziger Jahre, solche Kräfte niederzudrücken. Aber es werden<lb/> auch keine Versuche gemacht werden, das Schicksal der Türkei im Voraus zu<lb/> bestimmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1605" next="#ID_1606"> Noch weit kleinlicher wie der Verdacht, es handle sich um eine Verschwö¬<lb/> rung gegen die Türkei, ist die neuerdings von dem „Journal cisg ä6half"<lb/> auf Grund polnischer Quellen vertretene Muthmaßung, Deutschland und Ru߬<lb/> land wollten sich in das Regierungssystem Oesterreichs, in Bezug auf Galizien<lb/> mischen. Für einen solchen Zweck setzt man keinen solchen Apparat in Scene.<lb/> Oesterreich besitzt in Galizien viel mehr eine Schwierigkeit als eine Waffe.<lb/> Und der Gebrauch der Waffe wäre doch nur im Fall der Nothwehr geboten.<lb/> Oder glaubt Jemand, Oesterreich denke auf seiner russischen Grenze an Ag¬<lb/> gression und Eroberung? Die deutsche und die russische Regierung, dessen darf<lb/> man wohl sicher sein, werden dem Kaiser von Oesterreich die eigenthümlichen<lb/> Schwierigkeiten, welche ihm der polnische Theil seines Reiches bei des letzteren<lb/> Gesammtlage bereitet, lediglich zur eigenen Lösung überlassen. Das<lb/> no8 clvd-Zeh" hätte weiterhin klug gethan, sich nicht mit der komischen Befürch¬<lb/> tung zu beschäftigen, als wollte der deutsche Kaiser durch seine mächtigen<lb/> Freunde sich den Besitz Elsaß-Lothringens garantiren lassen. Es genügt voll¬<lb/> kommen, wenn Deutschland bei seiner einstigen Vertheidigung gegen den fran¬<lb/> zösischen Rachekrieg der sympathischen Neutralität seiner mächtigen Nachbarn<lb/> gewiß ist. Mehr sucht es nicht und mehr bedarf es nicht. Selbst eine solche<lb/> Neutralität aber ist keine Sache, die man sich auf eine unbestimmte Zeit ver-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0474]
Herrscher des europäischen Osten stehen wieder innig verbunden neben einander
zur Abwehr gegen Anarchie und phantastische Verirrungen der keltischen Aben¬
teuerlichkeit; aber mit dem tiefgreifenden Unterschiede gegen früher, daß sie in
ihre innere Negierungspolitik allseitig die Förderung der natürlichen Entwick¬
lung der Völker, anstatt der kurzsichtigen Niederhaltung derselben, wie einstens,
aufgenommen haben.
Die ausländische Presse bringt vergebens Gründe für den Zerfall der
neuen ostmächtlichen Allianz herbei, die in der freien Sympathie der Herrscher
beruht und in den jetzigen Festlichkeiten zu Berlin einen so imposanten Aus¬
druck erhält. Immer wieder wird der Zwiespalt der russischen und öster¬
reichischen Interessen in der orientalischen Frage hervorgesucht. Neuerdings
eignet sogar die „Times" sich dieses Thema an, was zu erklären ist aus der
in England theilweis herrschenden Furcht, Oesterreich möchte dazu gebracht
werden, den englischen Bemühungen für die Aufrechthaltung der Türkei nicht
ferner wie bisher zu secundiren. Es bedarf dazu jedoch keiner besonderen
Mittel. Wenn sich im Innern des türkischen Reiches Kräfte erheben, stark
genug, das morsche, aber immer noch wuchtige Gebäude aus den Angeln zu heben,
so wird keine der Ostmächte den Wunsch haben, wie noch bei dem griechischen
Aufstand der zwanziger Jahre, solche Kräfte niederzudrücken. Aber es werden
auch keine Versuche gemacht werden, das Schicksal der Türkei im Voraus zu
bestimmen.
Noch weit kleinlicher wie der Verdacht, es handle sich um eine Verschwö¬
rung gegen die Türkei, ist die neuerdings von dem „Journal cisg ä6half"
auf Grund polnischer Quellen vertretene Muthmaßung, Deutschland und Ru߬
land wollten sich in das Regierungssystem Oesterreichs, in Bezug auf Galizien
mischen. Für einen solchen Zweck setzt man keinen solchen Apparat in Scene.
Oesterreich besitzt in Galizien viel mehr eine Schwierigkeit als eine Waffe.
Und der Gebrauch der Waffe wäre doch nur im Fall der Nothwehr geboten.
Oder glaubt Jemand, Oesterreich denke auf seiner russischen Grenze an Ag¬
gression und Eroberung? Die deutsche und die russische Regierung, dessen darf
man wohl sicher sein, werden dem Kaiser von Oesterreich die eigenthümlichen
Schwierigkeiten, welche ihm der polnische Theil seines Reiches bei des letzteren
Gesammtlage bereitet, lediglich zur eigenen Lösung überlassen. Das
no8 clvd-Zeh" hätte weiterhin klug gethan, sich nicht mit der komischen Befürch¬
tung zu beschäftigen, als wollte der deutsche Kaiser durch seine mächtigen
Freunde sich den Besitz Elsaß-Lothringens garantiren lassen. Es genügt voll¬
kommen, wenn Deutschland bei seiner einstigen Vertheidigung gegen den fran¬
zösischen Rachekrieg der sympathischen Neutralität seiner mächtigen Nachbarn
gewiß ist. Mehr sucht es nicht und mehr bedarf es nicht. Selbst eine solche
Neutralität aber ist keine Sache, die man sich auf eine unbestimmte Zeit ver-
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