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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Nihilisten, den Radiealsten aller Radicalen, von den Skopzen die sich selbst
verstümmeln.

Das sind Gegensätze, die leicht sich durch Beispiele noch vermehren ließen
und den nicht genau mit Rußland Bertrauten in Verwirrung bringen. Wie
großartig aber der Fortschritt im ganzen gewesen, wollen wir nur durch ein
Beispiel erhärten. Als 1772 Katharina II. das hundertjährige Jubiläum
Peter's des Großen feierte, ließ sie ihrem großen Vorgänger jenes gewaltige
Reiterstandbild von Bronze hier errichten, das auf einem colossalen Granit¬
felsen ruht. In diesem Jahre aber, als wir die zweite Wiederkehr dieses
Jubiläums feierten, eröffnete in des Kaisers Namen Großfürst Constantin zu
Moskau eine internationale Industrieausstellung! Freilich sagt man, daß die
Cultur- und Civilisationssymptome, die in unseren großen Städten zu Tage
treten kein maßgebendes Kriterium für das ganze weite Reich sein können,
von dessen Bewohnern 60--60,000,000 Bauern sind und bis vor Kurzem noch
leibeigene Menschen waren. Aber wir wissen hier wie schnell der Fortschritt
auf dem Lande ist, wie, uns völlig in die Reihe der Culturnationen eintreten
zu lassen, nur noch eine solche Friedensepoche wie unter Czar Alexander II.
nothwendig ist. Wir sind unserm Souverän unendlich dankbar für den Frieden,
den er uns erhalten hat, wir fühlen dessen Segen und jeder, der es aufrichtig
wohl meint mit dem heiligen Rußland, wünscht eine Verlängerung der
Friedensperiode auch für die Regierungszeit des Nachfolgers ihres gegen¬
wärtigen Kaisers.

Aber gewaltiger noch als das Friedensbedürfniß, welches im russischen
Volke lebt, ist dessen Nationalgefühl erwacht und dieses ist es, welches
manche Schaumblasen aufwirft, nach außen hin aggressiv erscheint. Bis zum
Jahre 1812, als die Franzosen nach Moskau zogen und auch lange nach
dieser Zeit hatten wir kein russisches Nationalbewußtsein. Zwischen hoch und
niedrig, zwischen dem adeligen Gutsherrn und seinen Leibeigenen gähnte eine
tiefe Kluft, welche durch die Fremden ausgefüllt wurde. Da war vor allen
der Jude, der unter den Slaven seine beste Rechnung findet, da war der
deutsche Lehrer, Beamte und Techniker, da waren Engländer und Franzosen,
die alle zusammen den Handel, die Industrie, die Intelligenz monopolisirten,
die unentbehrlich schienen. Die russische Sprache erklang kaum in der guten
Gesellschaft; hier hatte sie dem Französischen und dem Deutschen den Platz
eingeräumt. Das Kaiserreich importirte Ideen <zu Aros, genau so wie es
ausländische Waaren importirte und zumal aus Deutschland. Aus Deutsch¬
land stammt die Dynastie, aus Deutschland holten sich unsere Herrscher der
Reihe nach ihre Frauen, die wohl die griechische Religion annehmen mußten,
aber im Wesen doch Deutsche blieben. Unter Alexander I. und Nicolaus wa¬
ren nicht nur der Hof, sondern auch die Regierung, die Armee und die höhe-


Grmzbotm III. 1872. 55

Nihilisten, den Radiealsten aller Radicalen, von den Skopzen die sich selbst
verstümmeln.

Das sind Gegensätze, die leicht sich durch Beispiele noch vermehren ließen
und den nicht genau mit Rußland Bertrauten in Verwirrung bringen. Wie
großartig aber der Fortschritt im ganzen gewesen, wollen wir nur durch ein
Beispiel erhärten. Als 1772 Katharina II. das hundertjährige Jubiläum
Peter's des Großen feierte, ließ sie ihrem großen Vorgänger jenes gewaltige
Reiterstandbild von Bronze hier errichten, das auf einem colossalen Granit¬
felsen ruht. In diesem Jahre aber, als wir die zweite Wiederkehr dieses
Jubiläums feierten, eröffnete in des Kaisers Namen Großfürst Constantin zu
Moskau eine internationale Industrieausstellung! Freilich sagt man, daß die
Cultur- und Civilisationssymptome, die in unseren großen Städten zu Tage
treten kein maßgebendes Kriterium für das ganze weite Reich sein können,
von dessen Bewohnern 60—60,000,000 Bauern sind und bis vor Kurzem noch
leibeigene Menschen waren. Aber wir wissen hier wie schnell der Fortschritt
auf dem Lande ist, wie, uns völlig in die Reihe der Culturnationen eintreten
zu lassen, nur noch eine solche Friedensepoche wie unter Czar Alexander II.
nothwendig ist. Wir sind unserm Souverän unendlich dankbar für den Frieden,
den er uns erhalten hat, wir fühlen dessen Segen und jeder, der es aufrichtig
wohl meint mit dem heiligen Rußland, wünscht eine Verlängerung der
Friedensperiode auch für die Regierungszeit des Nachfolgers ihres gegen¬
wärtigen Kaisers.

Aber gewaltiger noch als das Friedensbedürfniß, welches im russischen
Volke lebt, ist dessen Nationalgefühl erwacht und dieses ist es, welches
manche Schaumblasen aufwirft, nach außen hin aggressiv erscheint. Bis zum
Jahre 1812, als die Franzosen nach Moskau zogen und auch lange nach
dieser Zeit hatten wir kein russisches Nationalbewußtsein. Zwischen hoch und
niedrig, zwischen dem adeligen Gutsherrn und seinen Leibeigenen gähnte eine
tiefe Kluft, welche durch die Fremden ausgefüllt wurde. Da war vor allen
der Jude, der unter den Slaven seine beste Rechnung findet, da war der
deutsche Lehrer, Beamte und Techniker, da waren Engländer und Franzosen,
die alle zusammen den Handel, die Industrie, die Intelligenz monopolisirten,
die unentbehrlich schienen. Die russische Sprache erklang kaum in der guten
Gesellschaft; hier hatte sie dem Französischen und dem Deutschen den Platz
eingeräumt. Das Kaiserreich importirte Ideen <zu Aros, genau so wie es
ausländische Waaren importirte und zumal aus Deutschland. Aus Deutsch¬
land stammt die Dynastie, aus Deutschland holten sich unsere Herrscher der
Reihe nach ihre Frauen, die wohl die griechische Religion annehmen mußten,
aber im Wesen doch Deutsche blieben. Unter Alexander I. und Nicolaus wa¬
ren nicht nur der Hof, sondern auch die Regierung, die Armee und die höhe-


Grmzbotm III. 1872. 55
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[0433] Nihilisten, den Radiealsten aller Radicalen, von den Skopzen die sich selbst verstümmeln. Das sind Gegensätze, die leicht sich durch Beispiele noch vermehren ließen und den nicht genau mit Rußland Bertrauten in Verwirrung bringen. Wie großartig aber der Fortschritt im ganzen gewesen, wollen wir nur durch ein Beispiel erhärten. Als 1772 Katharina II. das hundertjährige Jubiläum Peter's des Großen feierte, ließ sie ihrem großen Vorgänger jenes gewaltige Reiterstandbild von Bronze hier errichten, das auf einem colossalen Granit¬ felsen ruht. In diesem Jahre aber, als wir die zweite Wiederkehr dieses Jubiläums feierten, eröffnete in des Kaisers Namen Großfürst Constantin zu Moskau eine internationale Industrieausstellung! Freilich sagt man, daß die Cultur- und Civilisationssymptome, die in unseren großen Städten zu Tage treten kein maßgebendes Kriterium für das ganze weite Reich sein können, von dessen Bewohnern 60—60,000,000 Bauern sind und bis vor Kurzem noch leibeigene Menschen waren. Aber wir wissen hier wie schnell der Fortschritt auf dem Lande ist, wie, uns völlig in die Reihe der Culturnationen eintreten zu lassen, nur noch eine solche Friedensepoche wie unter Czar Alexander II. nothwendig ist. Wir sind unserm Souverän unendlich dankbar für den Frieden, den er uns erhalten hat, wir fühlen dessen Segen und jeder, der es aufrichtig wohl meint mit dem heiligen Rußland, wünscht eine Verlängerung der Friedensperiode auch für die Regierungszeit des Nachfolgers ihres gegen¬ wärtigen Kaisers. Aber gewaltiger noch als das Friedensbedürfniß, welches im russischen Volke lebt, ist dessen Nationalgefühl erwacht und dieses ist es, welches manche Schaumblasen aufwirft, nach außen hin aggressiv erscheint. Bis zum Jahre 1812, als die Franzosen nach Moskau zogen und auch lange nach dieser Zeit hatten wir kein russisches Nationalbewußtsein. Zwischen hoch und niedrig, zwischen dem adeligen Gutsherrn und seinen Leibeigenen gähnte eine tiefe Kluft, welche durch die Fremden ausgefüllt wurde. Da war vor allen der Jude, der unter den Slaven seine beste Rechnung findet, da war der deutsche Lehrer, Beamte und Techniker, da waren Engländer und Franzosen, die alle zusammen den Handel, die Industrie, die Intelligenz monopolisirten, die unentbehrlich schienen. Die russische Sprache erklang kaum in der guten Gesellschaft; hier hatte sie dem Französischen und dem Deutschen den Platz eingeräumt. Das Kaiserreich importirte Ideen <zu Aros, genau so wie es ausländische Waaren importirte und zumal aus Deutschland. Aus Deutsch¬ land stammt die Dynastie, aus Deutschland holten sich unsere Herrscher der Reihe nach ihre Frauen, die wohl die griechische Religion annehmen mußten, aber im Wesen doch Deutsche blieben. Unter Alexander I. und Nicolaus wa¬ ren nicht nur der Hof, sondern auch die Regierung, die Armee und die höhe- Grmzbotm III. 1872. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/433>, abgerufen am 22.12.2024.