Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Befehl gefolgt, nicht mehr als 60,000 Mann. Diese kamen fast alle aus
Elsaß und Lothringen, aus der Champagne, der Franche-Conto und dem
Dauphins, aus Burgund und aus Paris -- der Süden, der Westen, der
Norden lieferten fast nichts*). Es half wenig, daß man da, wo die Behör¬
den mächtig genug waren, das alte Mittel der mobilen Colonne anwendete,
um die Deserteurs und unsicheren Heerespflichtigen aufzugreifen. Ueberall
stand ihnen die Bevölkerung bei und glaubte sich zum Theil auch legal
dazu berechtigt, da der König die Armee ja für aufgelöst erklärt hatte**).

Im Gegensatz zu diesem geringen Erfolge der befohlenen Aufgebote stehen
einige freiwillige Leistungen. So ergab der Aufruf an die verabschie¬
deten Militairs die stattliche Summe von 2ö,000 Mann. Aus anderen Mel¬
dungen ergaben sich für die Armee 10,000 Mann. In einigen Städten aber
gestalteten sich jene Leistungen in einer ganz neuen, fast befremdenden Form.
Zuerst waren es die Bürger der bretagnischen Städte, welche eine "patriotische
Föderation" bildeten; sie waren durch die Furcht vor den royalistischen
Chouans dazu gedrängt. Ihrem Beispiel aber folgten die "Patrioten" von
Burgund, Lyon und Straßburg; eine besonders wunderbare Erscheinung aber
waren die Föderationen in Paris. -- Der Kaiser hatte nämlich den Plan
einer Befestigung der Hauptstadt entworfen, um sie dadurch zum Mit¬
telpunkte einer großen Defensiv-Kriegführung zu befähigen, wie sie Carnot
von Hause aus befürwortetej, Napoleon allerdings nur für den Fall unglück¬
licher Offensivschläge in zweiter Reihe dachte. Bei den fortificatorifchen Aus¬
führungsarbeiten, sowie bei Herstellung von Waffen in improvisierten Fabriken,
waren nun große Massen von Vorstadtsarbeitern beschäftigt, unter denen der
Wunsch entstand, sich zu föderiren. Der Kaiser begriff, daß er diesen Wunsch
unterstützen müsse, da er, bei etwaiger Vertheidigung der Stadt, weit mehr
als auf die besitzenden Klassen jetzt auf jene Bevölkerung zu rechnen habe. Er
zeigte sich in den Faubourgs und versicherte, man werde im entscheidenden
Augenblicke nicht wie 1814 die Waffen verweigern, sondern 40,000 Flinten
und 1000 Linienofficiere zur Stelle haben. Darauf hin föderirten sich die
Vorstädte Se. Antoine und Se. Marceau und stellten sich zur Vertheidigung
von Paris unter die Chefs der Nationalgarde. Napoleon befahl, aus ihnen
80 Bataillone Tirailleurs zu bilden. Am nächsten Sonntag desilirten sie in
den Tuilerien. Vom Bastilleplatz, wo die Züge beider Vorstädte zusammen
gestoßen waren, kamen sie, wilde Freiheitslieder singend, an 15,000 Mann
stark, die Boulevards heraufgerückt -- Gestalten darunter, wie sie seit der




") Die Rhonemündungen z. B., welche 3283 Mann stellen sollten, lieferten 137, Vaucluse
statt 2500 nur 485, die unterwegs zum größten Theile desertirten, Tam und Garonne statt
1000 nur 100.
") Charras a. a. O.

Befehl gefolgt, nicht mehr als 60,000 Mann. Diese kamen fast alle aus
Elsaß und Lothringen, aus der Champagne, der Franche-Conto und dem
Dauphins, aus Burgund und aus Paris — der Süden, der Westen, der
Norden lieferten fast nichts*). Es half wenig, daß man da, wo die Behör¬
den mächtig genug waren, das alte Mittel der mobilen Colonne anwendete,
um die Deserteurs und unsicheren Heerespflichtigen aufzugreifen. Ueberall
stand ihnen die Bevölkerung bei und glaubte sich zum Theil auch legal
dazu berechtigt, da der König die Armee ja für aufgelöst erklärt hatte**).

Im Gegensatz zu diesem geringen Erfolge der befohlenen Aufgebote stehen
einige freiwillige Leistungen. So ergab der Aufruf an die verabschie¬
deten Militairs die stattliche Summe von 2ö,000 Mann. Aus anderen Mel¬
dungen ergaben sich für die Armee 10,000 Mann. In einigen Städten aber
gestalteten sich jene Leistungen in einer ganz neuen, fast befremdenden Form.
Zuerst waren es die Bürger der bretagnischen Städte, welche eine „patriotische
Föderation" bildeten; sie waren durch die Furcht vor den royalistischen
Chouans dazu gedrängt. Ihrem Beispiel aber folgten die „Patrioten" von
Burgund, Lyon und Straßburg; eine besonders wunderbare Erscheinung aber
waren die Föderationen in Paris. — Der Kaiser hatte nämlich den Plan
einer Befestigung der Hauptstadt entworfen, um sie dadurch zum Mit¬
telpunkte einer großen Defensiv-Kriegführung zu befähigen, wie sie Carnot
von Hause aus befürwortetej, Napoleon allerdings nur für den Fall unglück¬
licher Offensivschläge in zweiter Reihe dachte. Bei den fortificatorifchen Aus¬
führungsarbeiten, sowie bei Herstellung von Waffen in improvisierten Fabriken,
waren nun große Massen von Vorstadtsarbeitern beschäftigt, unter denen der
Wunsch entstand, sich zu föderiren. Der Kaiser begriff, daß er diesen Wunsch
unterstützen müsse, da er, bei etwaiger Vertheidigung der Stadt, weit mehr
als auf die besitzenden Klassen jetzt auf jene Bevölkerung zu rechnen habe. Er
zeigte sich in den Faubourgs und versicherte, man werde im entscheidenden
Augenblicke nicht wie 1814 die Waffen verweigern, sondern 40,000 Flinten
und 1000 Linienofficiere zur Stelle haben. Darauf hin föderirten sich die
Vorstädte Se. Antoine und Se. Marceau und stellten sich zur Vertheidigung
von Paris unter die Chefs der Nationalgarde. Napoleon befahl, aus ihnen
80 Bataillone Tirailleurs zu bilden. Am nächsten Sonntag desilirten sie in
den Tuilerien. Vom Bastilleplatz, wo die Züge beider Vorstädte zusammen
gestoßen waren, kamen sie, wilde Freiheitslieder singend, an 15,000 Mann
stark, die Boulevards heraufgerückt — Gestalten darunter, wie sie seit der




") Die Rhonemündungen z. B., welche 3283 Mann stellen sollten, lieferten 137, Vaucluse
statt 2500 nur 485, die unterwegs zum größten Theile desertirten, Tam und Garonne statt
1000 nur 100.
") Charras a. a. O.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0411" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128339"/>
          <p xml:id="ID_1400" prev="#ID_1399"> Befehl gefolgt, nicht mehr als 60,000 Mann. Diese kamen fast alle aus<lb/>
Elsaß und Lothringen, aus der Champagne, der Franche-Conto und dem<lb/>
Dauphins, aus Burgund und aus Paris &#x2014; der Süden, der Westen, der<lb/>
Norden lieferten fast nichts*). Es half wenig, daß man da, wo die Behör¬<lb/>
den mächtig genug waren, das alte Mittel der mobilen Colonne anwendete,<lb/>
um die Deserteurs und unsicheren Heerespflichtigen aufzugreifen. Ueberall<lb/>
stand ihnen die Bevölkerung bei und glaubte sich zum Theil auch legal<lb/>
dazu berechtigt, da der König die Armee ja für aufgelöst erklärt hatte**).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1401" next="#ID_1402"> Im Gegensatz zu diesem geringen Erfolge der befohlenen Aufgebote stehen<lb/>
einige freiwillige Leistungen. So ergab der Aufruf an die verabschie¬<lb/>
deten Militairs die stattliche Summe von 2ö,000 Mann. Aus anderen Mel¬<lb/>
dungen ergaben sich für die Armee 10,000 Mann. In einigen Städten aber<lb/>
gestalteten sich jene Leistungen in einer ganz neuen, fast befremdenden Form.<lb/>
Zuerst waren es die Bürger der bretagnischen Städte, welche eine &#x201E;patriotische<lb/>
Föderation" bildeten; sie waren durch die Furcht vor den royalistischen<lb/>
Chouans dazu gedrängt. Ihrem Beispiel aber folgten die &#x201E;Patrioten" von<lb/>
Burgund, Lyon und Straßburg; eine besonders wunderbare Erscheinung aber<lb/>
waren die Föderationen in Paris. &#x2014; Der Kaiser hatte nämlich den Plan<lb/>
einer Befestigung der Hauptstadt entworfen, um sie dadurch zum Mit¬<lb/>
telpunkte einer großen Defensiv-Kriegführung zu befähigen, wie sie Carnot<lb/>
von Hause aus befürwortetej, Napoleon allerdings nur für den Fall unglück¬<lb/>
licher Offensivschläge in zweiter Reihe dachte. Bei den fortificatorifchen Aus¬<lb/>
führungsarbeiten, sowie bei Herstellung von Waffen in improvisierten Fabriken,<lb/>
waren nun große Massen von Vorstadtsarbeitern beschäftigt, unter denen der<lb/>
Wunsch entstand, sich zu föderiren. Der Kaiser begriff, daß er diesen Wunsch<lb/>
unterstützen müsse, da er, bei etwaiger Vertheidigung der Stadt, weit mehr<lb/>
als auf die besitzenden Klassen jetzt auf jene Bevölkerung zu rechnen habe. Er<lb/>
zeigte sich in den Faubourgs und versicherte, man werde im entscheidenden<lb/>
Augenblicke nicht wie 1814 die Waffen verweigern, sondern 40,000 Flinten<lb/>
und 1000 Linienofficiere zur Stelle haben. Darauf hin föderirten sich die<lb/>
Vorstädte Se. Antoine und Se. Marceau und stellten sich zur Vertheidigung<lb/>
von Paris unter die Chefs der Nationalgarde. Napoleon befahl, aus ihnen<lb/>
80 Bataillone Tirailleurs zu bilden. Am nächsten Sonntag desilirten sie in<lb/>
den Tuilerien. Vom Bastilleplatz, wo die Züge beider Vorstädte zusammen<lb/>
gestoßen waren, kamen sie, wilde Freiheitslieder singend, an 15,000 Mann<lb/>
stark, die Boulevards heraufgerückt &#x2014; Gestalten darunter, wie sie seit der</p><lb/>
          <note xml:id="FID_124" place="foot"> ") Die Rhonemündungen z. B., welche 3283 Mann stellen sollten, lieferten 137, Vaucluse<lb/>
statt 2500 nur 485, die unterwegs zum größten Theile desertirten, Tam und Garonne statt<lb/>
1000 nur 100.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_125" place="foot"> ") Charras a. a. O.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0411] Befehl gefolgt, nicht mehr als 60,000 Mann. Diese kamen fast alle aus Elsaß und Lothringen, aus der Champagne, der Franche-Conto und dem Dauphins, aus Burgund und aus Paris — der Süden, der Westen, der Norden lieferten fast nichts*). Es half wenig, daß man da, wo die Behör¬ den mächtig genug waren, das alte Mittel der mobilen Colonne anwendete, um die Deserteurs und unsicheren Heerespflichtigen aufzugreifen. Ueberall stand ihnen die Bevölkerung bei und glaubte sich zum Theil auch legal dazu berechtigt, da der König die Armee ja für aufgelöst erklärt hatte**). Im Gegensatz zu diesem geringen Erfolge der befohlenen Aufgebote stehen einige freiwillige Leistungen. So ergab der Aufruf an die verabschie¬ deten Militairs die stattliche Summe von 2ö,000 Mann. Aus anderen Mel¬ dungen ergaben sich für die Armee 10,000 Mann. In einigen Städten aber gestalteten sich jene Leistungen in einer ganz neuen, fast befremdenden Form. Zuerst waren es die Bürger der bretagnischen Städte, welche eine „patriotische Föderation" bildeten; sie waren durch die Furcht vor den royalistischen Chouans dazu gedrängt. Ihrem Beispiel aber folgten die „Patrioten" von Burgund, Lyon und Straßburg; eine besonders wunderbare Erscheinung aber waren die Föderationen in Paris. — Der Kaiser hatte nämlich den Plan einer Befestigung der Hauptstadt entworfen, um sie dadurch zum Mit¬ telpunkte einer großen Defensiv-Kriegführung zu befähigen, wie sie Carnot von Hause aus befürwortetej, Napoleon allerdings nur für den Fall unglück¬ licher Offensivschläge in zweiter Reihe dachte. Bei den fortificatorifchen Aus¬ führungsarbeiten, sowie bei Herstellung von Waffen in improvisierten Fabriken, waren nun große Massen von Vorstadtsarbeitern beschäftigt, unter denen der Wunsch entstand, sich zu föderiren. Der Kaiser begriff, daß er diesen Wunsch unterstützen müsse, da er, bei etwaiger Vertheidigung der Stadt, weit mehr als auf die besitzenden Klassen jetzt auf jene Bevölkerung zu rechnen habe. Er zeigte sich in den Faubourgs und versicherte, man werde im entscheidenden Augenblicke nicht wie 1814 die Waffen verweigern, sondern 40,000 Flinten und 1000 Linienofficiere zur Stelle haben. Darauf hin föderirten sich die Vorstädte Se. Antoine und Se. Marceau und stellten sich zur Vertheidigung von Paris unter die Chefs der Nationalgarde. Napoleon befahl, aus ihnen 80 Bataillone Tirailleurs zu bilden. Am nächsten Sonntag desilirten sie in den Tuilerien. Vom Bastilleplatz, wo die Züge beider Vorstädte zusammen gestoßen waren, kamen sie, wilde Freiheitslieder singend, an 15,000 Mann stark, die Boulevards heraufgerückt — Gestalten darunter, wie sie seit der ") Die Rhonemündungen z. B., welche 3283 Mann stellen sollten, lieferten 137, Vaucluse statt 2500 nur 485, die unterwegs zum größten Theile desertirten, Tam und Garonne statt 1000 nur 100. ") Charras a. a. O.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/411
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/411>, abgerufen am 22.07.2024.