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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Stellung genommen aus den Höhen von Belleville*). Mehr der Mangel an
Kampflust als der Factionsgeist erklärt dies Verhalten. Der Waffenstillstand,
die Capitulation wälzten den Parisern einen Stein vom Herzen, und jener no¬
torisch unermeßliche Jubel der Hunderttausende, der die einziehenden Verbün¬
deten empfing und der so warm, so herzlich war, als ob das eigene Heer aus
dem volkstümlichsten Kriege siegreich heimkehrte, der zeigt die Stimmung der
Pariser besser, als alle späteren Phrasen beschönigender bonapartistischer und
republikanischer Geschichtsschreiber. Den Hochrufen auf die verbündeten Für¬
sten gesellten sich das: "g. das Is t^ran LongMi'es!" und der Versuch, das
Standbild Napoleon's von der Vendomesäule herabzureißen: -- die Commune
von 1871 hat dies nur nachgeahmt.

Der Kaiser war entschlossen, den Kampf aufs Aeußerste fortzusetzen. Er
stellte sein nach und nach eintreffendes Heer und die Trümmer des Corps von
Mortier, welche in Folge der Kapitulation Paris verlassen, im Ganzen etwa
60,000 Mann, am Essonnebach auf. -- Zwischen ihm und der vom Feinde
besetzten Stadt stand Marmont. Napoleon's Absicht war, rechts Seine und
Marne zu überschreiten und, Paris umgehend, die Höhen von Belleville anzu¬
greifen. Es war das ein ganz hoffnungsloses Unternehmen, das lediglich zu
des Imperators persönlicher Gloire ausgeführt werden sollte -- und dabei
mitzuwirken hatte Niemand mehr Lust. Zwar empfingen ihn die Corps wol
noch mit dem Vive 1'LmM'Lur, und die alte Garde war vielleicht zum Aeu-
ßersten entschlossen, da zumal die Nachricht von der Annahme der weißen Fahne
in Paris feindlichste Stimmungen bei ihr erweckte; aber bei den anderen
Truppen wollte es trotz der persönlichen Anstrengungen Napoleon's zu keiner
Aeußerung des Enthusiasmus kommen; ungeheuer war die Masse der Ueber¬
läufer und Deserteurs; und als am 2. April bereits der Senat den Kaiser
und sein H a-us feierlich des Thrones verlustig erklärte, war die Sache
entschieden. In der Reihe von Unthaten und Verfassungsbrüchen, welche der
Senat dem "Korsen" vorwarf, figurirte die ganze Folge seiner Kriege, die er
alle ohne die gesetzliche Zustimmung der Volksvertreter begonnen und geführt
habe, sowie auch das Decret von Fismes, durch welches er unter Androhung
von Todesstrafen den Volkskrieg entflammt habe, wozu er nicht berechtigt
gewesen sei. Solche Anklagen im Munde dieses feilen Senates, durch den üb¬
rigens Talleyrand redete, sind natürlich ekelerregend und läppisch; aber sie
verfehlten ihre Wirkung nicht, ebensowenig wie der Aufruf, den die provi¬
sorische Regierung an die Armee richtete, um sie des Eides zu ent¬
binden. Sie wurde dabei an die Sorglosigkeit erinnert, mit der der Kaiser



') Rühmlichen Eifer zeigten die polytechnischen Schüler, welche die Bedienung eines
Theils der ungemein zahlreichen Geschütze übernahmen.

Stellung genommen aus den Höhen von Belleville*). Mehr der Mangel an
Kampflust als der Factionsgeist erklärt dies Verhalten. Der Waffenstillstand,
die Capitulation wälzten den Parisern einen Stein vom Herzen, und jener no¬
torisch unermeßliche Jubel der Hunderttausende, der die einziehenden Verbün¬
deten empfing und der so warm, so herzlich war, als ob das eigene Heer aus
dem volkstümlichsten Kriege siegreich heimkehrte, der zeigt die Stimmung der
Pariser besser, als alle späteren Phrasen beschönigender bonapartistischer und
republikanischer Geschichtsschreiber. Den Hochrufen auf die verbündeten Für¬
sten gesellten sich das: „g. das Is t^ran LongMi'es!" und der Versuch, das
Standbild Napoleon's von der Vendomesäule herabzureißen: — die Commune
von 1871 hat dies nur nachgeahmt.

Der Kaiser war entschlossen, den Kampf aufs Aeußerste fortzusetzen. Er
stellte sein nach und nach eintreffendes Heer und die Trümmer des Corps von
Mortier, welche in Folge der Kapitulation Paris verlassen, im Ganzen etwa
60,000 Mann, am Essonnebach auf. — Zwischen ihm und der vom Feinde
besetzten Stadt stand Marmont. Napoleon's Absicht war, rechts Seine und
Marne zu überschreiten und, Paris umgehend, die Höhen von Belleville anzu¬
greifen. Es war das ein ganz hoffnungsloses Unternehmen, das lediglich zu
des Imperators persönlicher Gloire ausgeführt werden sollte — und dabei
mitzuwirken hatte Niemand mehr Lust. Zwar empfingen ihn die Corps wol
noch mit dem Vive 1'LmM'Lur, und die alte Garde war vielleicht zum Aeu-
ßersten entschlossen, da zumal die Nachricht von der Annahme der weißen Fahne
in Paris feindlichste Stimmungen bei ihr erweckte; aber bei den anderen
Truppen wollte es trotz der persönlichen Anstrengungen Napoleon's zu keiner
Aeußerung des Enthusiasmus kommen; ungeheuer war die Masse der Ueber¬
läufer und Deserteurs; und als am 2. April bereits der Senat den Kaiser
und sein H a-us feierlich des Thrones verlustig erklärte, war die Sache
entschieden. In der Reihe von Unthaten und Verfassungsbrüchen, welche der
Senat dem „Korsen" vorwarf, figurirte die ganze Folge seiner Kriege, die er
alle ohne die gesetzliche Zustimmung der Volksvertreter begonnen und geführt
habe, sowie auch das Decret von Fismes, durch welches er unter Androhung
von Todesstrafen den Volkskrieg entflammt habe, wozu er nicht berechtigt
gewesen sei. Solche Anklagen im Munde dieses feilen Senates, durch den üb¬
rigens Talleyrand redete, sind natürlich ekelerregend und läppisch; aber sie
verfehlten ihre Wirkung nicht, ebensowenig wie der Aufruf, den die provi¬
sorische Regierung an die Armee richtete, um sie des Eides zu ent¬
binden. Sie wurde dabei an die Sorglosigkeit erinnert, mit der der Kaiser



') Rühmlichen Eifer zeigten die polytechnischen Schüler, welche die Bedienung eines
Theils der ungemein zahlreichen Geschütze übernahmen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/375>, abgerufen am 22.07.2024.