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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Armee am Fuß der Westpyrenäen befehligte, sollte nun zwei Infanterie-Di¬
visionen und die Hälfte seiner Reiterei in Eile nach Orleans senden. Suchet,
.der sich unbesiegt in Catalonien und im Roussillon behauptete, wurde an¬
gewiesen, eine starke Infanterie-Division und zwei Drittel seiner Reiterei
in Richtung auf Lyon in Bewegung zu setzen. Beiden sollten diese Trup¬
pen durch neuausgehobene Rekruten ersetzt werden. -- Da Napoleon solche
Maßregeln so spät erst nöthig achtete, ergab sich das eigenthümliche Verhält¬
niß, daß die festorganisirten, kriegsgewohnten und geübten Schaaren, die er
noch hatte, vorzugsweise auf einem Nebenschauplatz des Krieges verwendet
wurden, wo die Entscheidung nicht lag. Keineswegs eine glückliche Oeconomie
der Streitkräfte!*)

Am 30. December und 6. Januar befahl der Kaiser, aus der tauglichsten
Mannschaft der in Bildung begriffenen Kohorten 121 Bataillone "mobiler
Nationalgarde" aufzustellen, welche im freien Felde gebraucht werden soll¬
ten. Diese Maßregel erregte große Unzufriedenheit und kam nur sehr lang¬
sam und unvollständig zu Stande. Was half es, daß man jden zum Theil
schon so alten Leuten versprach, sie gleich nach geschlossenem Frieden wieder
zu entlassen; es hieß jetzt ins Feld zu rücken und dazu bezeigten sie überaus
wenig Lust. Vielfach sahen die Behörden sich gezwungen, gegen wioerspän-
stige Ortschaften Execution zu verfügen, und solche Gewaltmaßregeln sogar
im Februar, ja im März noch zu wiederholen.

Auch zu Paris, wurde eine Nationalgarde errichtet. Napoleon ließ in¬
dessen nicht die Arbeiterklassen, welche er im freien Felde verwenden wollte,
sondern die wohlhabenderen und gebildeteren Bürger in dieselbe einstellen.
Er hoffte so alle einflußreicheren Oppositionselemente am besten diseipliniren
und zugleich die Polizei unterstützen zu können. Uebrigens ernannte er die
Officiere selbst aus seinen Höflingen und Beamten. Die Angst der Bürger¬
garde, am Ende auch im freien Felde gebraucht zu werden, war groß. Zur
Beruhigung erhielt sie ausdrücklich den Namen Kai-as natiouÄls ssäen-
tg,ire. Von ihren Stabsoffieieren ließ sich der Kaiser am Tage vor seiner
Abreise zur Armee den Eid der Treue leisten und vertraute ihnen mit senti¬
mentalen Worten den Schutz seiner Gemahlin und seines Sohnes an.

Es war gegen seine Gewohnheit gewesen, daß Napoleon noch wochenlang
nach Eröffnung der Operationen in Paris geblieben, schriftliche Befehle seubert,
die sich an Ort und Stelle meist unausführbar erwiesen. Die Rüstungen
gewährten ihm den Vorwand; der eigentliche Grund aber war wol sein
Wunsch, den Rückzug vom Rhein nicht selbst anzutreten, sondern den facti¬
schen Oberbefehl erst in dem Augenblick zu übernehmen, wo das Heer wider-



') v. Bernhardt- Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Grafen Toll.

Armee am Fuß der Westpyrenäen befehligte, sollte nun zwei Infanterie-Di¬
visionen und die Hälfte seiner Reiterei in Eile nach Orleans senden. Suchet,
.der sich unbesiegt in Catalonien und im Roussillon behauptete, wurde an¬
gewiesen, eine starke Infanterie-Division und zwei Drittel seiner Reiterei
in Richtung auf Lyon in Bewegung zu setzen. Beiden sollten diese Trup¬
pen durch neuausgehobene Rekruten ersetzt werden. — Da Napoleon solche
Maßregeln so spät erst nöthig achtete, ergab sich das eigenthümliche Verhält¬
niß, daß die festorganisirten, kriegsgewohnten und geübten Schaaren, die er
noch hatte, vorzugsweise auf einem Nebenschauplatz des Krieges verwendet
wurden, wo die Entscheidung nicht lag. Keineswegs eine glückliche Oeconomie
der Streitkräfte!*)

Am 30. December und 6. Januar befahl der Kaiser, aus der tauglichsten
Mannschaft der in Bildung begriffenen Kohorten 121 Bataillone „mobiler
Nationalgarde" aufzustellen, welche im freien Felde gebraucht werden soll¬
ten. Diese Maßregel erregte große Unzufriedenheit und kam nur sehr lang¬
sam und unvollständig zu Stande. Was half es, daß man jden zum Theil
schon so alten Leuten versprach, sie gleich nach geschlossenem Frieden wieder
zu entlassen; es hieß jetzt ins Feld zu rücken und dazu bezeigten sie überaus
wenig Lust. Vielfach sahen die Behörden sich gezwungen, gegen wioerspän-
stige Ortschaften Execution zu verfügen, und solche Gewaltmaßregeln sogar
im Februar, ja im März noch zu wiederholen.

Auch zu Paris, wurde eine Nationalgarde errichtet. Napoleon ließ in¬
dessen nicht die Arbeiterklassen, welche er im freien Felde verwenden wollte,
sondern die wohlhabenderen und gebildeteren Bürger in dieselbe einstellen.
Er hoffte so alle einflußreicheren Oppositionselemente am besten diseipliniren
und zugleich die Polizei unterstützen zu können. Uebrigens ernannte er die
Officiere selbst aus seinen Höflingen und Beamten. Die Angst der Bürger¬
garde, am Ende auch im freien Felde gebraucht zu werden, war groß. Zur
Beruhigung erhielt sie ausdrücklich den Namen Kai-as natiouÄls ssäen-
tg,ire. Von ihren Stabsoffieieren ließ sich der Kaiser am Tage vor seiner
Abreise zur Armee den Eid der Treue leisten und vertraute ihnen mit senti¬
mentalen Worten den Schutz seiner Gemahlin und seines Sohnes an.

Es war gegen seine Gewohnheit gewesen, daß Napoleon noch wochenlang
nach Eröffnung der Operationen in Paris geblieben, schriftliche Befehle seubert,
die sich an Ort und Stelle meist unausführbar erwiesen. Die Rüstungen
gewährten ihm den Vorwand; der eigentliche Grund aber war wol sein
Wunsch, den Rückzug vom Rhein nicht selbst anzutreten, sondern den facti¬
schen Oberbefehl erst in dem Augenblick zu übernehmen, wo das Heer wider-



') v. Bernhardt- Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Grafen Toll.
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[0367] Armee am Fuß der Westpyrenäen befehligte, sollte nun zwei Infanterie-Di¬ visionen und die Hälfte seiner Reiterei in Eile nach Orleans senden. Suchet, .der sich unbesiegt in Catalonien und im Roussillon behauptete, wurde an¬ gewiesen, eine starke Infanterie-Division und zwei Drittel seiner Reiterei in Richtung auf Lyon in Bewegung zu setzen. Beiden sollten diese Trup¬ pen durch neuausgehobene Rekruten ersetzt werden. — Da Napoleon solche Maßregeln so spät erst nöthig achtete, ergab sich das eigenthümliche Verhält¬ niß, daß die festorganisirten, kriegsgewohnten und geübten Schaaren, die er noch hatte, vorzugsweise auf einem Nebenschauplatz des Krieges verwendet wurden, wo die Entscheidung nicht lag. Keineswegs eine glückliche Oeconomie der Streitkräfte!*) Am 30. December und 6. Januar befahl der Kaiser, aus der tauglichsten Mannschaft der in Bildung begriffenen Kohorten 121 Bataillone „mobiler Nationalgarde" aufzustellen, welche im freien Felde gebraucht werden soll¬ ten. Diese Maßregel erregte große Unzufriedenheit und kam nur sehr lang¬ sam und unvollständig zu Stande. Was half es, daß man jden zum Theil schon so alten Leuten versprach, sie gleich nach geschlossenem Frieden wieder zu entlassen; es hieß jetzt ins Feld zu rücken und dazu bezeigten sie überaus wenig Lust. Vielfach sahen die Behörden sich gezwungen, gegen wioerspän- stige Ortschaften Execution zu verfügen, und solche Gewaltmaßregeln sogar im Februar, ja im März noch zu wiederholen. Auch zu Paris, wurde eine Nationalgarde errichtet. Napoleon ließ in¬ dessen nicht die Arbeiterklassen, welche er im freien Felde verwenden wollte, sondern die wohlhabenderen und gebildeteren Bürger in dieselbe einstellen. Er hoffte so alle einflußreicheren Oppositionselemente am besten diseipliniren und zugleich die Polizei unterstützen zu können. Uebrigens ernannte er die Officiere selbst aus seinen Höflingen und Beamten. Die Angst der Bürger¬ garde, am Ende auch im freien Felde gebraucht zu werden, war groß. Zur Beruhigung erhielt sie ausdrücklich den Namen Kai-as natiouÄls ssäen- tg,ire. Von ihren Stabsoffieieren ließ sich der Kaiser am Tage vor seiner Abreise zur Armee den Eid der Treue leisten und vertraute ihnen mit senti¬ mentalen Worten den Schutz seiner Gemahlin und seines Sohnes an. Es war gegen seine Gewohnheit gewesen, daß Napoleon noch wochenlang nach Eröffnung der Operationen in Paris geblieben, schriftliche Befehle seubert, die sich an Ort und Stelle meist unausführbar erwiesen. Die Rüstungen gewährten ihm den Vorwand; der eigentliche Grund aber war wol sein Wunsch, den Rückzug vom Rhein nicht selbst anzutreten, sondern den facti¬ schen Oberbefehl erst in dem Augenblick zu übernehmen, wo das Heer wider- ') v. Bernhardt- Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Grafen Toll.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/367>, abgerufen am 22.07.2024.