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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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sich in die Arme geworfen, stark genug sein werde, um wenigstens die äußere
Ordnung aufrecht zu erhalten und die Aera der revolutionären Erschütterungen
vorläufig zu schließen. Und die äußere Ordnung hat er hergestellt und lange
Zeit hindurch mit Kraft geschützt; er hat noch mehr gethan: er hat trotz einer
bis zur Gewissenlosigkeit verschwenderischen Finanzwirthschaft und einer de-
moralisirten und demoralisirenden Verwaltung, den Wohlstand des Landes
gehoben, er hat mit Muth und Glück gegen tief eingewurzelte wirthschaftliche
Vorurtheile angekämpft. Dies Verdienst bleibt ihm unbestritten; aber hier¬
auf beschränkt dasselbe sich auch. Denn dem geistigen Verfall der Nation
entgegen zu arbeiten, gebrach es ihm sowohl an der Neigung, wie an der
Fähigkeit. Für die ideale Aufgabe des Staates und der Gesellschaft ging
ihm, wie seinem Oheim, das Verständniß völlig ab. Er fürchtete jede freie
Regung des Geistes und, bewußt oder unbewußt, arbeitete er dahin, das
geistige und sittliche Niveau der französischen Gesellschaft noch tiefer hinab¬
zudrücken, wobei ihm die verbündete ultramontane Partei die unschätzbarsten
Dienste leistete.

Und die französische Nation ließ sich die Erniedrigung, mit der sie das
äußere Gedeihen zu erkaufen hatte, sehr wohl gefallen. Es bildete sich all-
mälig gegen Napoleon eine lebhafte politische Opposition, aber von einer
geistigen und sittlichen Reaction gegen sein System, gegen den inneren Ver¬
fall der Gesellschaft, finden wir nur schwache Spuren. Man sprach oder schrieb
sich wohl gelegentlich in eine entrüstete Stimmung hinein, man schwang wohl
die Geißel des Spottes über das sybaritische Treiben, den aller wahren Eleganz
und Würde entbehrenden Luxus der höchsten Kreise, aber trotz alles Spottes
fühlte man sich wohl in der Pariser Atmosphäre, in der Atmosphäre der
"döeaÄLnev."

Mitten in diese dumpfe Atmosphäre führt uns die Schrift von Ruten¬
berg. Denn ein großer Theil des öffentlichen Lebens in Frankreich concentrirte
sich, wie der Verfasser sehr richtig bemerkt, auf den Bühnen der Pariser
Theater. Wie der französische Nationalcharakter sich erst in Paris seiner selbst
bewußt wird, wie jedes französische Talent zur nationalen Berühmtheit wird,
wenn die Hauptstadt es anerkennt und ihm ihren Stempel aufgedrückt hat:
so ist wiederum die Bühne das Spiegelbild, gleichsam der Mikrokosmus des
Pariser Lebens. Der dramatische Dichter läßt sich von der Strömung treiben,
die das Centrum beherrscht, mag diese Strömung ausgehen vom Hofe, von
den Salons der vornehmen und geistreichen großen Welt -- den burczaux
Ä'WMt --, oder von den Tanzsälen der Deal-Monde. In neuester Zeit
nun ist der Charakter des Pariser Lebens durch die ununterbrochenen Wechsel¬
beziehungen zwischen der großen und der Halbwelt bestimmt worden. Die
Tuilerien warenz wohl der Mittelpunkt des politischen, nicht aber des gesell-


sich in die Arme geworfen, stark genug sein werde, um wenigstens die äußere
Ordnung aufrecht zu erhalten und die Aera der revolutionären Erschütterungen
vorläufig zu schließen. Und die äußere Ordnung hat er hergestellt und lange
Zeit hindurch mit Kraft geschützt; er hat noch mehr gethan: er hat trotz einer
bis zur Gewissenlosigkeit verschwenderischen Finanzwirthschaft und einer de-
moralisirten und demoralisirenden Verwaltung, den Wohlstand des Landes
gehoben, er hat mit Muth und Glück gegen tief eingewurzelte wirthschaftliche
Vorurtheile angekämpft. Dies Verdienst bleibt ihm unbestritten; aber hier¬
auf beschränkt dasselbe sich auch. Denn dem geistigen Verfall der Nation
entgegen zu arbeiten, gebrach es ihm sowohl an der Neigung, wie an der
Fähigkeit. Für die ideale Aufgabe des Staates und der Gesellschaft ging
ihm, wie seinem Oheim, das Verständniß völlig ab. Er fürchtete jede freie
Regung des Geistes und, bewußt oder unbewußt, arbeitete er dahin, das
geistige und sittliche Niveau der französischen Gesellschaft noch tiefer hinab¬
zudrücken, wobei ihm die verbündete ultramontane Partei die unschätzbarsten
Dienste leistete.

Und die französische Nation ließ sich die Erniedrigung, mit der sie das
äußere Gedeihen zu erkaufen hatte, sehr wohl gefallen. Es bildete sich all-
mälig gegen Napoleon eine lebhafte politische Opposition, aber von einer
geistigen und sittlichen Reaction gegen sein System, gegen den inneren Ver¬
fall der Gesellschaft, finden wir nur schwache Spuren. Man sprach oder schrieb
sich wohl gelegentlich in eine entrüstete Stimmung hinein, man schwang wohl
die Geißel des Spottes über das sybaritische Treiben, den aller wahren Eleganz
und Würde entbehrenden Luxus der höchsten Kreise, aber trotz alles Spottes
fühlte man sich wohl in der Pariser Atmosphäre, in der Atmosphäre der
„döeaÄLnev."

Mitten in diese dumpfe Atmosphäre führt uns die Schrift von Ruten¬
berg. Denn ein großer Theil des öffentlichen Lebens in Frankreich concentrirte
sich, wie der Verfasser sehr richtig bemerkt, auf den Bühnen der Pariser
Theater. Wie der französische Nationalcharakter sich erst in Paris seiner selbst
bewußt wird, wie jedes französische Talent zur nationalen Berühmtheit wird,
wenn die Hauptstadt es anerkennt und ihm ihren Stempel aufgedrückt hat:
so ist wiederum die Bühne das Spiegelbild, gleichsam der Mikrokosmus des
Pariser Lebens. Der dramatische Dichter läßt sich von der Strömung treiben,
die das Centrum beherrscht, mag diese Strömung ausgehen vom Hofe, von
den Salons der vornehmen und geistreichen großen Welt — den burczaux
Ä'WMt —, oder von den Tanzsälen der Deal-Monde. In neuester Zeit
nun ist der Charakter des Pariser Lebens durch die ununterbrochenen Wechsel¬
beziehungen zwischen der großen und der Halbwelt bestimmt worden. Die
Tuilerien warenz wohl der Mittelpunkt des politischen, nicht aber des gesell-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/330>, abgerufen am 22.12.2024.